Samstag, September 16, 2017

Die Suche nach dem Weg aus der Misere (Teil I)

Meine Arbeit erlaubt mir interessante, manchmal auch schmerzhafte Einblicke in den seelischen Zustand von ägyptischen Menschen (meist Männern) allen Alters. Zumindest in jene der (unteren und oberen) Mittelschicht.

Der politische, wirtschaftliche und strukturelle Zustand des Landes lässt nicht viel Hoffnung für eine rosige Zukunft aufkommen. Dazu kommen gesellschaftliche Probleme, die besonders für jüngere Generationen bedrückend sind. Schlechte Ausbildung, keine Arbeit, kein Geld, keine Aussicht auf Heirat und einengende Traditionen. Manch einer sucht die Erlösung im Freitod. Oder im Schwindel und Betrug.

Andere kämpfen oder versuchen es wenigstens. Von einigen möchte ich hier erzählen (die Namen und Städte sind alle geändert).

Wael, 29 Jahre
Er kommt aus einem Dorf nahe Port Said am Mittelmeer. Sein Vater arbeitete in Saudi Arabien als Fotograf, während die Familie in Ägypten lebte. Aus der ersten Ehe entstand ein Sohn, der es nach Italien geschafft hat. Als Kleinkind erlebte Wael materiellen Reichtum – solange Geld vom Vater kam. Später, als der Vater zurückkehrte und nicht mehr arbeiten konnte, war das Geld durch verschwenderischen Lebensstil schnell aufgebraucht. Die drei Kinder aus der zweiten Ehe mit einer völlig ungebildeten Frau (die Heirat war eine Rache gegenüber der ersten Ehefrau) besuchten öffentliche Schulen. Wael studierte Landwirtschaft. Er liebt die Natur, züchtet und pflanzt gerne. Er hat viele gute Ideen – die wohl nie umgesetzt werden.

Er kam nach Hurghada, arbeitete als Verkäufer am Strand, später als Masseur. Er kam zu mir, um Deutsch zu lernen, in der Hoffnung auf einen besseren Job. Er lernte kaum, liess Unterricht sausen, hörte auf. Irgendwann rannte er von seiner Arbeit weg, weil dem hochgewachsenen, gutaussehenden jungen Mann eine ältere Arbeitskollegin näher kommen wollte und ihn damit in Schwierigkeiten brachte. Die Frau hüpft durch alle Betten des Managements, weshalb ihm niemand glauben würde.

Wael träumt von Europa. Sein Stiefbruder in Italien will davon nichts wissen. Auch davon nicht, dass das Geld für die Ausbildung der jüngeren Geschwister einfach nicht reicht.
Freunde in England wollen ihm helfen, ein Visum zu bekommen. Die haben – so erzählt er - eine Baufirma. Um Besitz vorweisen zu können, wollte er das Grundstück der Familie auf sich umschreiben lassen. Seine Mutter war dagegen. Der wohlhabende Onkel, der Wael seit seiner Kindheit einen Versager schimpft, steht im Weg.

Wael beschloss, Englisch zu lernen. Enthusiastisch fing er an, doch nach drei Wochen kamen wieder Ausreden: Er hätte die ganze Nacht nicht geschlafen, weil die Klimaanlage nicht funktionierte. Eine Lebensmittelvergiftung. Ärger mit der Mama, zu der er inzwischen den Kontakt abgebrochen hat.

Tatsache ist: Wael leidet unter Depression. Er sehnt sich nach Familie, nach einer Partnerin, nach einer Zukunft – die ausser Reichweite scheint. Mit knapp 30 Jahren und unverheiratet sieht er sich als nutzlosen Versager und Verlierer. Jene Frauen, mit denen er eine Beziehung hatte (eine Ägypterin, eine Osteuropäerin), haben ihn hintergangen. Er hat Angst vor den Menschen, geht nur nachts aus dem Haus. Hin und wieder vertraut er sich mir an.

Kimo, 38 Jahre
Der gutaussehende, aussergewöhnlich intelligente und mehrsprachig aufgewachsene Mann kommt aus einer guten Familie mit libanesischen, griechischen und italienischen Wurzeln. Vielseitig begabt, charmant, überzeugend und selbstsicher wird er zum Star im frankophonen Tourismus. In der Hoch-Zeit des Tourismus verdient er glänzend und lernt die Liebe seines Lebens kennen: eine russische Sängerin.


Sie kehrt in ihr Land zurück, Kimo widmet sich anderen Frauen, die Revolution kommt und der Tourismus geht. Kimo verliert wie Hunderttausend andere seinen Job und sein Startum. In seiner Heimatstadt am Mittelmeer ist er oft arbeitslos, manchmal schlägt er sich mit einem miserabel bezahlten Job herum.

Er fällt in Depression, verbringt mehrere Monate in einer psychiatrischen Klinik.
In El Gouna findet er wieder eine Stelle auf Manager-Ebene und arbeitet beinahe rund um die Uhr. Schlaf braucht er nicht viel – er leidet seit Jahrzehnten unter Schlafstörungen. Als ihm ein Landsmann vor die Nase gesetzt wird, hängt er den Job an den Nagel.

Er träumt seit Jahren davon, nach Kanada und später nach Australien auszuwandern. Sein älterer, beruflich erfolgreicher Bruder arbeitet in Osteuropa, weit weg von der älter werdenden Mutter, die Kimo nicht allein lassen kann. Frustriert, depressiv schlägt er sich die Nächte irgendwie um die Ohren. Ab und zu zieht er sich noch weiter zurück: in die Wüste, in eine Oase.

Mohamed, um die 30 Jahre
Mohamed steht für viele Mohameds und Ahmeds und Mahmouds. Sie kommen aus Qena, aus Luxor, aus Hurghada, aus Kairo, aus Tanta oder aus einem Kaff im Delta, am Mittelmeer, am Roten Meer oder dem Niltal.

(Fortsetzung folgt morgen)

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