Sonntag, Oktober 18, 2020

Der lange (Covid-)Sommer 2020

Es war leise hier. Still. Bedrückend.

Damit meine ich nicht die Aussenwelt, sondern die Innenwelt. Natürlich bellten die Hunde mitten in der Nacht und rissen mich aus meinem Schlaf. Natürlich hupten die Taxis nervend alle zweihundert Meter und trübten die Freuden eines Spaziergangs. Natürlich hatten wir über Sommer den  Inlandtourismus, wie immer, wenn der Auslandtourismus wie Seifenblasen an politischen Gegebenheiten zerplatzt. Er ist der willkommene, ungeliebte Lückenbüsser, der noch einen kleinen Beitrag an die Fixkosten beisteuert und viele Scherereien bereitet.

Nach innen gestülpt

Ich meine aber die Innenwelt. Die von diesen Fachleuten ausgerufene Epidemie hat die Welt, oder zumindest die Welt, wie ich sie wahrnehme, nach innen gestülpt. Die Pflichten, denen wir tagaus, tagein nachgingen, waren weggefallen: Keine Arbeit, kein Einkommen, keine Vergnügungsmöglichkeiten, nicht mal an den Strand durften wir. Alles zu. Alles angehalten. Verboten.

Anfangs, als die Reize von Aussen fehlten, nahm ich mir enthusiastisch vor, all die vielen Dinge zu erledigen, für die mir sonst die Zeit fehlt. Nach einigen wenigen Erfolgserlebnissen erschlaffte mein Elan dafür zusehends. Ich verbrachte Stunden mit Nichtstun. Oder nicht wirklich mit Nichtstun, sondern mit Beobachten, mit Nachdenken. Mit Fühlen und Spüren. Mit Suchen und Versuchen zu verstehen. Gedanken schwirrten mir durch den Kopf und ich versuchte sie festzuhalten, von allen Seiten zu drehen und zu beobachten… sie entwischten mir, kamen aber irgendwann wieder zurück.

Ich habe dann angefangen, Albert Camus „La Peste“ nochmals zu lesen. Er beschreibt herrlich, wie die verschiedenen Menschentypen auf eine Epidemie, auf damit verbundene Einschränkungen und Angst reagieren und wie sich die Optimisten sträuben, an die Wahrheit zu glauben, wie die Pessimisten schwarz malten und sich doch jeder mit der Zeit auf die eine oder andere Art und Weise mit den Tatsachen abfindet. Ich fand mich darin.

Es war für mich gar nicht mehr wichtig, etwas zu tun, etwas zu erledigen, etwas aufzuarbeiten. Was in vor-pandemischen Zeiten dringend und als Pflicht  im Raum oder in der Agenda stand oder vielleicht nur auf dem Notizzettel oder im Kopf hing, versickerte irgendwie ins Nichtssagende.

Zeit war ja da und zwar im Überfluss. Sie verging zwar auch, aber sie erschien endlos, abstrakt, definitionslos. Wozu heute bügeln? Wozu heute putzen? Wozu heute die E-Mail beantworten? Das einzig wichtige erschien mir, meinen Geisteszustand zu kontrollieren um nicht wahnsinnig oder depressiv zu werden und halbwegs körperlich fit zu bleiben. Nicht mal das habe ich stets geschafft.

In dieser Zeit rückten die Menschen in ihrer begrenzten Welt ungewollt, aber notgedrungen zusammen. Bei uns in der Wohnanlage waren Menschen gestrandet… Italiener, die nur für acht Tage in den Urlaub kommen wollten und dann über mehrere Wochen hier blockiert waren… eine ältere Engländerin, der es ähnlich erging, die sich in diesen Monaten vom Verlust ihres Partners erholte, körperlich aufpäppelte und einen neuen Partner fand… Ein digitaler Nomade aus Belgien, der so schnell wie möglich wieder hier wegwollte, aber doch drei Monate kleben blieb… Das ältere Ehepaar aus Norditalien, das die Wintermonate hier verbringt, um Kosten zu sparen und deren Flug vom Mai in den Juni, vom Juni in den Juli, vom Juli in den August verschoben wurde, deren einziger Tagesinhalt war: Wann können wir endlich fliegen?

Nähe oder Distanz

Sie kamen, einige blieben und einige verschwanden wieder. Während man sich anfangs aus der Distanz beäugte und sich freundlich grüsste, rückte man mit der Zeit doch etwas zusammen. Wir waren ja immer dieselben Personen, die sich am Pool einfanden. Zuerst nur jene, die hier hängen geblieben waren (viele flogen noch Hals über Kopf vor dem 19. März ab), das waren keine zehn Personen.

Dann jene, die vorübergehend hierherzogen, weil ihr Hotel keinen Service mehr bieten konnte oder durfte. Man plauderte, diskutierte, öffnete sein Herz, erzählte Kummer und Sorgen. Daraus entstanden Zweckgemeinschaften, woraus mitunter allmählich Freundschaften entstanden. Plötzlich sah ich Leute hier im Garten, rund um den Pool, die ich noch nie hier gesehen hatte, die aber auch seit vielen Jahren hier wohnen. Wie blind muss ich vorher gewesen sein! Oder doch nicht? Mein Blickfeld hatte sich verändert. Ihr Tagesablauf hatte sich verändert. Auch sie hatten keine Arbeit mehr.

Als Grüblerin malte ich mir aus, wie wir wochen- oder monatelang aufeinander hocken würden, auch wenn wir uns jederzeit in unsere Wohnungen zurückziehen konnten. Und ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis wir uns auf den Wecker gehen würden. Wann wir uns nicht mehr sehen und riechen konnten. Ich fühlte mich unwohl bei dem Gedanken, dass ich mich mit jemandem anfreundete, meine Sorgen und Ängste anvertraute und die Person eine Stunde später mit dem nächsten darüber sprechen würde. So viel Auswahl war ja nicht da und das Mitteilungsbedürfnis bleibt uns ja erhalten. Oder wären mir die stets gleichen Gespräche, Sorgen und Fragen vielleicht irgendwann überdrüssig? Ich beschloss, mich noch mehr zurückzuziehen. Dadurch fühlte ich mich zwar einsam, aber weniger verletzlich. Ich wollte besonders einigen Mitbewohnern auch weiterhin freundlich und aufmerksam zuhören, wenn ich mich ihnen denn widmete.

In jenen Wochen benützten wir ständig dasselbe Fragewort: Wann? Wann können wir fliegen? Wann können wir wieder normal leben? Wann kommt der Tourismus zurück? Wann dürfen wir an den Strand? Wann öffnen die Cafés wieder?

Die Schwarzmaler meinten, es gehe noch lange, die Optimisten hofften auf bald und die Realisten stellten in den Raum, dass es nie wieder so sein würde, wie es war.

Ich wollte nichts davon wissen, ich wollte verstehen. Um zu verstehen, beobachtete ich weiter.

In der Krise erkennt man den Charakter

Da draussen warteten Angestellte seit Monaten auf ihren Lohn. Inhaber von weltbekannten, aber auch kleineren, lokalen Touristikunternehmen sind Mehrfach-Millionäre, zahlen aber keine Löhne. Einige haben die Löhne gekürzt: stufenweise, gleichlaufend mit der Dauer des Ausbleibens von Touristen. Viele Menschen hier – Unternehmer wie Angestellte - können keine Mieten mehr zahlen. Und viele wissen nicht mehr, wovon sie zu Essen kaufen sollen. Wer etwas zu verkaufen hat, verkauft: ein Auto, eine Tauchausrüstung, eine Uhr, Kleidung, eine Flasche importierten Whisky, ein Kühlschrank, eine Wohnung. Unter dem Preis, einfach, um etwas Bargeld in die Hand zu bekommen. Einige wenige profitieren von der Situation. Der wahre Charakter zeigt sich in der Not. Nichts Neues eigentlich, einfach eine weitere Bestätigung.

Allerdings gab es auch Wohnungsbesitzer, die die Wohnungsmiete reduziert oder sogar vorübergehend auf Null heruntergesetzt haben. Auch da zeigt sich der wahre Charakter.

Trotzdem belastet mich das zunehmende Elend, die Verzweiflung der anderen. Nicht jeder kann sich vom Reiseleiter zum Call-Center-Mitarbeiter wandeln oder hat Eltern, die finanziell Hilfe bieten können. Autowäscher vor Geschäften sind mittlerweile zu einer Plage geworden. Unternehmer versuchen seit Winter ausstehende Gelder einzutreiben – chancenlos, obwohl die in Villen hocken, vor denen teure Mercedes stehen.

„Erfinde dich neu“ oder „Es wird nie wieder so sein, wie vorher“

Ich machte mir (und mache noch immer ein bisschen) immense Sorgen wegen meiner Zukunft. Zu alt, um noch eine Anstellung zu finden. Zu spät, um in Europa nochmals von vorne anzufangen. Die losgetretene Rezession wird Europa arg zusetzen und Arbeitsplätze vernichten. Und hier brechen mir meine Kunden weg. Wie weiter?

Eine Freundin sagte schon vor Jahren zu mir: Dann erfinde dich neu! Dieser Rat echot seither in meinem Kopf herum. Es war mir bis anhin nicht gelungen, ihn zu greifen, ihm eine Form zu geben und ihn mit Sinn zu füllen.

Irgendwo schnappte ich auf, dass man sich auf seine Fähigkeiten besinnen sollte. Ach ja, jetzt fällt mir wieder ein, wo ich das gelesen habe: „The Seven spiritual laws of success“ von Deepak Chopra. Damit beschäftigte ich mich mehrere Wochen... und liess wieder davon ab.

Solche und ähnliche Überlegungen verschoben den Fokus weg vom ergebnislosen „Wann?“ hin zu „Wie und was kann ich?“ In Managersprache übersetzt: von problemorientiert zu lösungsorientiert.

Damit fing mir auch an zu dämmern, was es mit dieser platten Aussage „Es wird nie wieder so sein, wie vorher“ auf sich haben könnte. Es geht wohl weniger darum, wie lange uns „die da oben“ die Reisefreiheit einschränken und uns zum Mund-Nasen-Schutz-Tragen verdonnern wollen oder dass wir mit diesem Virus leben müssen.

Sondern es geht darum, wer sich jetzt weiter entwickelt und wer nicht, wer sich weiterentwickeln kann oder nicht. Ich bin noch mitten drin in diesem Prozess, weiss noch nicht so genau, in welche Richtung es geht. Sehe ich jedoch, was da in Höchstgeschwindigkeit an Digitalisierung auf uns Menschen zustürmt, dann schwindelt mir. Diese blöde Pandemie hat diese Entwicklung in einem unglaublichen Tempo beschleunigt. Ich würde mich nicht wundern, wenn wir uns bald die Augen vor lauter Neuerungen im Alltagsleben reiben würden. Renne da, wer kann und springe auf den Zug auf… sonst findet er sich einst alleine in einer Welt, wo niemand mehr ist.

Der Lehrer, der mit Online-Unterricht nicht klar kommt; der Angestellte, der im Home-Office versauert; der Lebensmittelhändler, der nicht auf einer Bestell-App präsent ist; der Banker, der durch E-Banking ersetzt wird… Das sind nur ein paar Beispiele.

Alle machen sich Sorgen, alle haben Probleme, jeder aus seiner Perspektive, aus seiner Situation heraus. Der eine hat zwar noch einen Job und Einkommen, empfindet ihn aber plötzlich als extrem schwierig (Digitalisierung). Die Menschen kommen mir plötzlich weicher, verletzlicher, gefühlvoller vor.

Später, als ich mich wieder etwas mehr den Menschen zuwandte, ist mir bewusst geworden, dass es einigen ähnlich ging wie mir.

Sie haben nach innen gehorcht. Was mache ich mit all dieser brachliegenden Zeit? Was mache ich aus mir? Was ist mir wichtig? Der tägliche Sprint um Einkommen, um Verdienst, um Materielles, das wir nun halt einfach brauchen in der Welt, in der unsereiner lebt, vernebelt manchmal den Blick aufs Wesentliche.

Nur: Was ist denn das Wesentliche?

Kürzlich hat mir einer gesagt: Das Beste, was mir passieren konnte, ist, sieben Monate ohne Arbeit zu sein.“

Ein Unternehmer, der alles verloren hat, sagte mir: „Ich muss mich zuerst selbst wieder finden.“

Klar gibt es noch jene, die noch immer ihren Job haben, gut verdienen oder genug Ersparnisse haben, um genüsslich zuzusehen, was da draussen passiert.

Doch wahrscheinlich geht es da draussen ganz vielen Menschen so, wie diesen zwei und wie mir. Für uns wird die Welt nie mehr so sein, wie sie war und wir werden uns neu erfinden. Mein Hirn produziert jedenfalls viele Ideen, die ich dann verwerfe, die hartnäckig zurückkommen und eine oder zwei davon behalte ich. An einer arbeite ich.

Es ist auch nicht mehr so leise und bedrückend. Es ist – wie Camus es beschreiben hat – so, dass man sich mit der Situation abfindet. Man sucht nach Neuem, nach Lösungen. Das Vergangene ist nicht nur vergangen, sondern kaputt.

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