Freitag, September 09, 2022

Traumtanz – Tanztraum

Unsere Fusssohlen zeichnen Spuren in den Staub. Wir stehen im Treppenhaus, weil es der einzig halbwegs kühle Ort ist, wo wir nicht gerade von allen Mitbewohnern beobachtet werden können.

Nach ein paar Trockenübungen erklingen die ersten Rhythmen. Ich stehe versteinert wie in Trance da und lausche dieser Musik… ich kenne sie… sie erinnert mich an etwas und doch kann ich es nicht einordnen. Mein Lehrer – ein Profitänzer – wiederholt den Namen mehrmals und schafft es dadurch endlich, mich aus meiner Starre herauszuholen.

Ich stehe schräg versetzt hinter ihm und versuche seine Schritte und seine Bewegungen nachzuahmen. Mein Kopf kriegt die Befehle kaum in meine Beine runter. Oder die Beine bewegen sich nicht so, wie sie sollten. Vierzig Jahre liegen zwischen meiner letzten Tanzerfahrung und diesem Moment und selbst damals tanzte ich in einer Gruppe und nicht mit einem Partner. Trotzdem macht es mir unbeschreibliche Freude, löst Glücksgefühle aus, die ich verloren geglaubt hatte.

Zudem ist mein Partner geduldig und klug. Nein, mehr: Er hat mich, meinen Körper, mein Wesen gelesen und eine Choreografie ausgewählt, die eine Geschichte erzählt.

Die Musik fliesst in meinen Körper hinein, nimmt ihn gefangen, erleichtert einzelne Bewegungen, die immer mehr zu einem sinnvollen Ablauf von Schritten, Drehungen und Sprüngen werden. Wie durch einen Schleier nehme ich wahr, wie mein Tanzpartner Hinweise gibt. „Lass dich fallen!“ – Ich lass mich nur bedingt fallen. „Jetzt musst du mir einfach vertrauen. Ich halte dich.“ – Ich vertraue nur bedingt.

Doch die Musik, die Schritte, die Drehungen und Sprünge vermischen sich, die Arme umfassen mich, halten mich und stützen mich. Noch stelle ich mich ungeschickt an, vergesse wieder einen Schritt, drehe mich in die falsche Richtung, gebe meinem Tanzpartner ungewollt einen Kinnhaken.

Wie peinlich! Ich entschuldige mich für meine Ungeschicklichkeit.

Während einiger Tage spüre ich Muskeln, deren Existenz ich vergessen hatte. Völlig aus der Übung, würde ich sagen, unbeweglich, eingerostet. Aber der Zauber hängt in mir fest, verlässt mich nicht mehr. Ich will mehr davon.

Ein paar Tage später klingelt der Wecker am Morgen und als ich realisiere, warum er mich weckt, stehe ich freudig auf. Wir üben nochmals, gehen langsam jeden Schritt, jede Drehung, jede Bewegung durch – ohne Musik. Irgendwie fühlt es sich diesmal besser an, vielleicht erinnert sich mein Körper schon ein bisschen?

Dann setzen diese bezaubernden Klänge ein, wir stehen in der Ausgangsposition. Den Einsatz verpasse ich um ein paar Sekunden, doch dann…

Die Bewegungen sind weicher, geschmeidiger, fliessender, ich vertraue, lasse mich fallen und die Arme umfassen mich, führen mich, drehen mich, halten mich hoch, setzen mich wieder ab. Und wir tanzen und wir drehen uns mit der Musik, in der Musik, sind Teil der Musik, sodass es mehr ist als ein Tanz.

Mir wird schwindlig. Ich juchze vor Freude.

Und dann das ganze nochmals. Und nochmals. Ich bin hin und weg. Ich bin überglücklich und zutiefst dankbar, dass ich dieses Gefühl nach so vielen Jahren nochmals empfinden durfte.*

Noch einmal klingelt der Wecker um dieselbe Zeit. Als ich realisiere, warum er mich weckt, erfasst mich bleierne Leere.

Heute ist kein Tanz mehr. Es war ein Traum. Im Treppenhaus suche ich vergeblich den Klang der Musik, verfolge die Bewegungen im Geist. Eingie Fussabdrücke sind noch da, ein paar Klänge schweben verloren im Wind. Es war ein Traum, eine Fata Morgana.

Ich stelle den Wecker ab und lege mich zurück. Ich schliesse die Augen und lass den Traum nochmals lebendig werden.

 (für R.)

*Ich war mehrere Jahre Mitglied einer Jazztanzgruppe und in einem Tanzverein.

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