Gestern sass ich frühabends vor meinem Laptop, betrachtete Bilder meiner letzten Ausflüge nach Oberägypten und wollte eigentlich darüber schreiben. Es kam aber anders und das wirkt noch immer nach. Jetzt schreibe ich über das, was da gestern passiert ist, um es loszuwerden.
Vom oberen
Stockwerk klangen seltsame Laute und dumpfe Geräusche herunter, dazwischen
schrie jemand.
Schon vor zwei
Wochen hörte ich etwas, ging hinauf, konnte aber nicht zuordnen, woher der Lärm
gekommen war.
Und gestern
Nachmittag ging es wieder los, diesmal länger. Entschlossen ging ich hinauf und
klingelte. Ein Mann riss die Türe weit auf und ich fragte die Frau im
Hintergrund: „Are you okay?“.
So habe ich das
gelernt. Man soll das Opfer ansprechen, nicht den Angreifer. Damit nimmt man
dem Angreifer den Wind aus den Segeln. Die Frau erwiderte wenig überzeugend: „Yes,
but my husband…“. Ich blickte den Mann an und wiederholte meine Frage. Er meinte,
ja, es sei alles ok. Nochmals wiederholte ich meine Frage der Frau zugewandt
und sie bejahte.
Na gut, dann hört
mit dem Lärm auf. Ich ging wieder in meine Wohnung runter und es blieb ruhig.
Bis am Abend. Mir gefror das Blut in den Adern und ich stürmte entschlossen hinauf. Gleichzeitig kam meine Nachbarin herauf, sie hatte die Schreie auch gehört. Ich klingelte. Der Mann öffnete und bat uns einzutreten. Nein, danke. Ich sprach die Frau an. Sie schluchzte und zitterte und taumelte die wenigen Schritte in den Gang zu uns heraus. Dort brach sie zusammen.
Wir versuchten
sie zu beruhigen. Wir baten den Mann, ihr Schuhe zu geben. Er warf noch nach,
sie solle sich was anziehen und nicht in dem Aufzug auf die Strasse gehen. Mein
Hirn notierte das, unterdrückte aber reflexartig eine Reaktion. Keine
Provokation, kein Urteilen, kein Angreifen. Dann gingen wir zusammen in meine
Wohnung hinunter. Die junge Frau war völlig verstört, unter Schock.
Zwischendurch purzelte hervor, dass er sie geschlagen habe, sie sei ohnmächtig
geworden, sie sei schwanger. Ich gab ihr ein Glas Wasser, brachte Eis für die blauen
Flecken und Beulen. Während sie in ihrer Muttersprache telefonierte und weinte,
ging meine Nachbarin zu einem anderen
Nachbarn, um zu fragen, ob die junge Frau vielleicht in der leeren Wohnung übernachten könne.
Niemand öffnete.
Wir berieten uns:
Krankenhaus oder Polizei. Was will die junge Frau? Nur ins nächste Flugzeug
zurück nach Russland. Meine Nachbarin hatte schon mehr Erfahrung mit solchen
Situationen: Sie war schon zwei Tage vorher wegen einem ähnlichen Fall auf der
Polizei. Der Mann sitzt momentan hinter Gitter.
K., die junge
Frau, wollte ihre Sachen holen, dann zur Polizei Anzeige erstatten und
Scheidung beantragen. Also auch noch verheiratet! Erneut gingen wir hinauf, der
Mann öffnete, bat uns herein. Ich stellte mich vors Schlafzimmer, meine
Nachbarin L. vor die Wohnungstür, während K. packte. Original der Eheurkunde,
Pass, Visum – das Wichtigste. Der Mann suchte kommentarlos das Dokument heraus.
Während ich wartete, kreisten meine Gedanken… Vergangenes aus meiner Kindheit…
seltsame Laute während des Tages und ich dachte immer, bei mir sei etwas
umgefallen… schöne Wohnung… neulich stellte ich mich ihnen vor, draussen, bei
den Autos, sie wich meinem Blick aus, er verhielt sich sehr höflich… auch
jetzt. Was geht wohl in so einem Mann vor... ungelüftetes Schlafzimmer… ungemachtes
Bett… meine Nachbarin L. immer noch vor der Wohnungstüre mit ihrem kleinen
Hündchen auf dem Arm… kein anderer Mann im Haus.
Wut erfasste
mich. Der Doorman: nicht da. Andere Männer im Haus: nicht verfügbar.
Wahrscheinlich hockten alle hinter den Gardinen um zu verfolgen, was da ablief.
Feiglinge. Alle miteinander.
K. war endlich
fertig, ich schleppte die zwei Koffer zur Tür und wir trugen alles in meine
Wohnung runter. Davor fragte ich den Mann noch, ob er etwas sagen wolle. Nein.
K. zog sie sich
um und wir fuhren zur Polizei. L. blieb zu Hause, sie wollte nicht schon wieder
die halbe Nacht dort verbringen.
Ich auch nicht.
Aber das Mädchen stand völlig unter Schock, unmöglich, sie in diesem Zustand
alleine zu lassen.
Wer spricht
Englisch oder Russisch? Einer der fünf jungen Polizeibeamten von denen nur der
Kopf und ein Teil des Oberkörpers hinter dem Schalter sichtbar sind, antwortet. Ich trage unser Anliegen vor. Was passiert sei. Pass.
Visum. Verheiratet? Eheurkunde. Wie heisst der Mann? (Steht doch auf der
Urkunde!!!). Wo ist der Mann?
Einer der Beamten
kämmt sich andächtig die Haare. Ich kann mein Grinsen nicht vermeiden und
kommentiere: „Das ist wichtig.“ Verlegen lächelt er und sieht weg.
Fragen über
Fragen, während das Ding neben mir fast umkippt. Setz dich hin, ich mach das
für dich!
Der junge
Polizist mit den zwei dicken Sternen auf den Schultern schickt die Streife los, um den
Mann abzuholen.
Warten.
Ich rief L. an um
ihr Bescheid zu geben, falls die nicht wissen, wo suchen. Aber inzwischen war
der Doorman wieder da. Er wurde von der Polizei befragt, obwohl er gar nichts
aussagen konnte. Ich rief auch ihn an und liess meine Wut an ihm aus: Nie sei
er da, wenn man ihn brauche! Prompt kam eine Nachricht eines anderen Nachbarn,
ich solle den Doorman heraushalten, das seien Familiengeschichten.
Ops. Da wird aber
etwas verdreht. Habe aber keine Lust, mich jetzt zu erklären.
Warten.
Die Polizei führt
armselige Gestalten an Handschellen herein. Bitterarme Teufel in schäbigen
Klamotten, kaputten Sandalen. Einer trägt eine zusammengerollte Decke mit sich,
die anderen Einkaufstüten. Wohl ihr Hab und Gut. Die sechste im Bunde ist eine
Frau, ganz in Schwarz gehüllt. An ihrem linken Handgelenk baumelt eine
Handschelle. Ich möchte fragen, was sie denn verbrochen haben, verkneife es mir
aber. Kleindelikte halt. Die mit den grossen Delikten hocken ja oben.
Warten.
Alle
Polizeibeamten rauchen. Ich geh hinaus, hole für K. eine Flasche Wasser. Sie
darf nicht raus.
Warten.
Der
Englischsprechende Beamte sagt, dass sie den Mann gefasst hätten. Er werde
hergebracht.
Warten.
Endlich kommt er.
Er muss seinen Ausweis abgeben. Dann werde ich hinaus gebeten.
Ich höre K.‘s
panische Reaktion, sie weicht aus. Die Polizisten versuchen sie zu beruhigen.
Mehr krieg ich nicht mit. Will ich auch nicht.
Nach einer Weile
kommen alle zu mir heraus. Sie müssen ins Krankenhaus fahren, ich soll bitte
mitkommen. Nein, ich fahre hinterher, K. kann mit mir fahren. Das Paar setzt
sich vor dem Gebäude auf eine Bank und diskutiert. K. wirkt etwas gefasster.
Er soll sie ins
Krankenhaus begleiten? Da fehlt mir die Logik, aber auch das geht mich nichts
an.
K. bittet mich,
zu gehen, sie wolle mich nicht noch mehr belasten. „Are you sure?“, frage ich.
Ja. Es sei ok. Ich bin nicht überzeugt, aber ich gehe. Der Mann erklärt, die
Polizei habe seinen Ausweis. Er gibt mir auch seine Telefonnummer. Beide
versprechen, sich bei mir zu melden.
Auch gut. Meine
Aufgabe war ja nur, K. zu beschützen und begleiten. Der Rest ist nicht mein
Bier. Ich setzte mich ins Auto und informierte L. Erst viel später beobachtete
ich, wie das Paar gemeinsam das Polizeigebäude verliess.
Ich fuhr heim,
müde, verwirrt, traurig.
Der Doorman
erwartete mich auf den Stufen vor dem Haustor. Ich grüsste ihn freundlich,
wollte aber nicht mehr reden. Doch er liess nicht los. Also versuchte ich ihm
so konzentriert wie möglich auf Arabisch zu erklären: Ich erwarte nicht, dass
er eingreife. Ich würde mir aber wünschen, dass ich ihn neben mir hätte, wenn
ich an der Türe klingle, einfach als Schutz, weil da ein Mann offenbar die
Kontrolle verloren habe. Ich erwarte einfach nur Präsenz. Mehr nicht. Es gehe
uns nichts an, wenn andere ihre Konflikte austrügen. Aber wenn jemand in Not
sei, dann müsse man doch handeln! Und wer hat gehandelt: zwei Frauen! Ich glaube
und hoffe, er hat mich verstanden.
Gegen elf Uhr
nachts klingelte er bei mir und teilte mit, dass in zehn Minuten die Koffer
geholt würden. Kurz darauf klopfte es zaghaft und K. stand da. Sie wirkte müde,
aber etwas erleichtert und gefasst, lächelte zaghaft: Keine schweren
Verletzungen. Sie schlafe heute Nacht in der Wohnung und ihr Mann werde
woanders schlafen. Sie hoffe, er komme nicht. „Lass den Schlüssel innen
stecken, dann kann niemand rein!“ Sie bedankte sich für den Tipp. Der Doorman
packte ihr Gepäck und trug es nach oben. Das kann er.
Ich hingegen konnte
kaum schlafen. Es war schon die zweite schlaflose Nacht dieser Woche.
Was für eine
Lösung die beiden getroffen habe, geht mich nichts an. Jedenfalls klingelte K.
am Nachmittag bei mir und fragte mich lächelnd, ob ich mit an den Strand käme. Ich
freute mich sehr, sie so zu sehen. Morgen würde sie nach Hause fliegen. Sie
melde sich noch morgen Vormittag.
*****
Im Nachhinein,
und deshalb auch der Titel „Zivilcourage oder Fehler?“, frage ich mich schon,
was da so abläuft in einer Gemeinschaft. Habe ich mich in
Familienangelegenheiten eingemischt? Soll ich meine Ohren zuhalten, wenn ich
jemanden in Not höre? Soll ich so tun, als ob nichts wäre? Ist es falsch „Stopp“
zu rufen, um Schlimmeres zu vermeiden? Soll ich als Mitbewohnerin Zeuge sein, wie
sich da zwei Personen lautstark streiten und mir damit meine Ruhe und meinen
Frieden nehmen? Und sich dann vielleicht sogar noch lebensgefährlich
verletzen? Soll ich wirklich weggucken, weghören, wegsehen? Und wenn wirklich
was Schlimmes passiert, wie gehe ich dann mit meinem Gewissen um? Hätte ich…?
Würde ich…? Sollte ich…?
Nein, sorry,
Leute. Ich kann das nicht. Ist mir auch egal, ob das als Zivilcourage oder als
Fehler deklariert wird. Beim nächsten Mal handle ich wieder gleich. Ich will
meinen Frieden. Und ich ertrage es nicht, jemanden in Not zu wissen, ich
ertrage Streit nicht und ich ertrage Lärm nicht, da gehen bei mir alle
Alarmglocken los und ich muss handeln.
Ich bin auch
nicht mehr enttäuscht, dass die anderen Nachbarn sich hinter den Gardinen versteckt
haben. Vielleicht hatten sie Angst, in etwas reingezogen zu werden. Oder sie
hatten Wichtigeres vor. Jeder hat seine Prioritäten. Egal. Abgehakt. Es geht
mir jetzt besser.
Bleibt die
egoistische Frage im Raum: Was, wenn mir was passiert?
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