Montag, Juni 19, 2023

Heute Abend kaufe ich ein Schaf

Natürlich nicht ich.

Mein langjähriger Schüler bat mich, den Unterricht vorzuverlegen, und ich war etwas neugierig nach dem Grund. Meistens liegt es daran, dass er als Reiseleiter extrem viel Arbeit hat. Ich nütze solche Ausnahmesituationen gern, um meine Schüler über ihren Alltag in Deutsch sprechen zu lassen.

Zu meiner Überraschung erklärte er mir, dass er heute Abend in Dahar ein Schaf kaufe.

(Zwischenbemerkung: Nächste Woche ist das Opferfest, an dem gläubige Muslime ein Schaf oder ein anderes Tier opfern und das Fleisch mit Freunden, Verwandten und Bedürftigen teilen.)

Darauf stellte ich ihm Fragen, einerseits, um ihn Deutsch sprechen zu lassen, andererseits, um von ihm zu erfahren, was seine Beweggründe sind.

Bereitwillig gab er mir Auskunft: Ein Schaf wiege um die 60 bis 70 kg und koste momentan zehn- bis elftausend Pfund (ca. € 300), einen Haufen Geld, besonders jetzt in der schwierigen wirtschaftlichen Lage. Er habe das schon Ende Ramadan gemacht und damals war das der Preis. Damals hat er alles an Arme verteilt und nichts für sich oder seine Familie behalten.

Sehr ernst fügte er an, es gebe sehr viele Leute, die seit (dem) Corona (Debakel) aus der Mittelschicht in die Armut gerutscht sind.

Doch diesmal werde er das Fleisch Dritteln: einen Teil für Familie, einen Teil für Freunde, einen Teil für Arme.

Und dann schloss er ganz ernst: „Weisst du, ich bin überzeugt, das kommt alles eines Tages zu mir zurück.“

Später, während des Unterrichts, wollte ich ihn auf das Thema „In die Ferien fahren“ einstimmen und fragte, wohin er dieses Jahr in die Ferien fahre. Zuerst verwechselte er Ferien und Feiertag. An den kommenden Feiertagen müsse er arbeiten.

Aber in die Ferien? Im August fahre er mit seiner Mutter nach Mekka, um die Omrah (islamische Wallfahrt) zu absolvieren. Im August? In der heissesten Jahreszeit? In Gedanken sehe ich die vielen Menschen, die in der Hitze ohnmächtig und in Panik zertrampelt werden.

Ja, weil die Reise dann am günstigsten sei, weil Saudi Arabien dann am wenigsten verlange. Es gebe inzwischen für ältere oder gehbehinderte Personen klimatisierte Golfwagen, um die heiligen Stätten zu erreichen.

Er würde fliegen, sofern es von Hurghada nach Mekka einen Direktflug gebe. Der dauere nur etwa eineinhalb Stunden. Sonst nähme er die Fähre von Hurghada oder Safaga nach Dschidda und von dort einen Bus.

Meine brennendste Frage zu dem Thema bestürmte mich, ich überlegte aber doch noch, wie ich die Frage formulieren soll, ohne seine Gefühle zu verletzen: „Ist diese Wallfahrt für dich wichtig?“

„Nein, ich mache es für meine Mutter. Sie möchte das unbedingt machen,“ war seine Antwort. „Und im September muss sie sich operieren lassen.“

Austausch funktioniert nur in beide Richtungen. So ergänzte ich, dass es das Geschäftsmodell „Wallfahrt“ auch bei uns in Europa und anderswo gibt. Damit lässt sich viel Geld verdienen.

Darüber waren wir uns einig.

 

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