Mittwoch, Januar 31, 2024

Lebenszeichen aus der Heimat

Drei Monate liegen hinter mir, seit ich im Flugzeug einige wenige Etappen meines Lebens in Ägypten, die mir beim Blick vom Himmel so in den Sinn kamen, gedanklich zusammenfasste.

Die ersten zwei Monate hier fragte ich mich, wie ich das durchhalten sollte und wozu. Ich war ausgelaugt. Es gab Abende, da legte ich mich nach der Heimkehr auf den Teppich und blieb eine Viertelstunde reglos und kraftlos liegen. Ich wollte niemanden sehen, mit niemandem reden und bin weder ausgegangen, noch habe ich Freunde getroffen. Dabei hatte ich mir mein Leben hier etwas anders ausgemalt.

Seit Anfang Jahr fühle ich mich „nur noch“ übermüdet. Ich war immerhin schon zwei Mal im Kino – für mehr hat es noch nicht gereicht.

Ungesunder Alltagstrott

Schwer fällt mir der Alltag. Alles ist eng geregelt: Alle fahren gleichzeitig zur Arbeit und stehen von 7 bis 8 Uhr morgens im Stau: im Bus, auf der Autobahn, in den Dörfern. Alle machen gleichzeitig Feierabend und stehen von 17.15 bis 18.15 Uhr im Stau (im Bus, auf der Autobahn, in den Dörfern). Bei täglich gut zwanzig Tausend Zupendlern aus den Nachbarländern, sogar aus Konstanz und Zürich kommen sie, wird es eng. Die Öffnungszeiten von Ämtern, Geschäften und Abfallentsorgung (Beamtendeutsch: Wertstoffsammelstelle) lassen dir wenig Wahl: Entweder nimmst du frei oder reist dich mit allen anderen wieder in die Warteschlange ein. Nach Feierabend drängt man sich dann gleichzeitig in den Bahnen der Hallenbäder oder an den Geräten in den Fitnesszentren. Ich weiss nicht, wer dieses engstirnige, menschenunfreundliche System erfunden hat. Völlig idiotisch finde ich das. Mir tut es nicht gut.

Vor einer Woche stand ich gänzlich absorbiert zwischen den Regalen eines Supermarktes – ich kenne ja die Produkte nicht mehr, also sehe ich mir genau an, was ich kaufe - , als mich eine Stimme freundlich aus meiner Träumerei riss: „Würden Sie bitte zur Kasse gehen?“ – Es war 19 Uhr. Wann soll ich denn einkaufen? An den Samstagen geht es zu und her wie an einem Volksfest – einmal lief ich aus so einem Geschäft fluchtartig raus, ohne Einkauf. Die Folge ist: In meinem Haushalt fehlt ständig etwas.

Da ich die hiesige Welt mit anderen Augen sehe, passieren mir manchmal seltsame Dinge. Da liegt z.B. ein schöner, gelber Zebrastreifen vor mir, die dazugehörige Ampel zeigt rot. Der Fussgänger soll warten, bis kein Auto aus einer Parkgarage fährt. Ich wiederhole: Parkgarage! Nicht Hauptstrasse! Da ist aber kein Auto. Da ist kein Verkehr. Da sind auch kaum Fussgänger. Also lasse ich das Rot leuchten,  überquere den schönen, gelben Zebrastreifen und erfreue mich am Bergpanorama über den Gebäuden. Da höre ich hinter mir eine Frauenstimme rufen: „Aber es ist rot!“ Ich kann’s kaum fassen. Ich grinse. Dann drehe ich meinen Kopf rum, um die Person anzulächeln und rufe ein „Ja!“ hinterher.

Später habe ich mir überlegt, dass all diese Regeln – die je nach Umständen ja sinnvoll sind - keinen Spielraum für gesunden Menschenverstand lassen. Genauso, wie mir mein Alltag keinen Spielraum für Musse und geistige sowie zeitliche Freiheit lässt.

Als ich einmal in einem Restaurant einen Salat bestellte, erwiderte die Bedienung „Französisch oder Italienisch“? Ich blickte sie entgeistert an. Meine Freundin lachte lauthals heraus und sagte etwas von „zu lange weg sein“. Ich kapierte noch immer nicht. Erst dann erklärte sie mir, dass sich die Frage auf die gewünschte Salatsauce bezog. Aha. Hätte die Bedienung ja auch etwas anders formulieren können, oder?

Wie müssen sich da „echte“ Ausländer fühlen, wenn sie in so eine Situation geraten?

Logischerweise hat auch mein Berufsalltag mit neuen Kollegen, neuen Computersystemen, neuen Aufgaben, neuen Anforderungen und Arbeitszeiten meinen Energiepegel in ein Ungleichgewicht gekippt. Deshalb bin ich ja hier und beisse mich durch. Also nicht wegen dem Energiepegel sondern wegen dem Job. Aber ich habe auch Glück gehabt. Glück, in meinem Alter eine anspruchsvolle, gut bezahlte Stelle bei einem grosszügigen, fairen Arbeitgeber zu erhalten. Und das für einen mehr oder weniger befristeten Zeitrahmen. Meine Kollegen haben mich sehr hilfsbereit und lieb aufgenommen. Ich bin ehrlich dankbar dafür. Meine finanzielle Lage ist gesichert, über mögliche Altersdemenz muss ich mir auch keine Gedanken machen – der Berufsalltag fordert mich übermässig.

Nebenwirkungen

Vor fünfzehn Jahren habe ich meine Habseligkeiten in Kartons verpackt und seither nur zwischendurch mal dies oder jenes herausgenommen, um es nach Hurghada mitzunehmen. Damals ahnte ich nicht, wie lange meine Sachen in Schachteln lagern würden. Ich ging von ein oder zwei Jahren aus.

Als ich nun die Kartons auspackte, erlebte ich eine Abenteuerreise in die Vergangenheit. Mit jedem Fotoalbum, Buch, Reise-, Bike- und Bergführer, Ordner, Andenken, jeder Land-, Wander- und Bikekarte, mit beinahe jedem Gegenstand entdeckte ich ein Stück meiner Vergangenheit wieder. Ich stand da und staunte über mein Leben und darüber, was ich schon alles gemacht habe und über die vielen Begegnungen, die Spuren hinterlassen und sich wieder verloren haben, über die vielen Erfahrungen, die ich beinahe vergessen habe. Rückblickend wirkt es vielfältig, unkonventionell und ein bisschen abenteuerlich.

Ich glaube, das ist für mich ein wichtiger Prozess: Ich darf die Vergangenheit in den nächsten paar Monaten auffrischen und dann genau dort wieder ablegen und mich dann endgültig auf die Zukunft ausrichten.

Nach so vielen Jahren der Distanz gehört die Nähe zu meinen Eltern zur „positiven Nebenwirkung“. Wie viel davon gut und wie viel Rückzug nötig sind unter den gegebenen (meinen) Umständen habe ich noch nicht ganz herausgefunden. Aber das hat ja noch Zeit.

Das, was mich jeden Tag aufs Neue begeistert - wenn die Wolken nicht gerade bis zum Tal herunter hängen und es wochenlang regnet – ist unsere Landschaft: das Panorama, die Berge, die Wälder, die Landschaften. Ich freue mich blödsinnig auf die wärmere Jahreszeit, um nicht mehr dick vermummt, sondern leicht bekleidet durch die Natur zu kurven und jede Farbe, jeden Geruch, jedes Zwitschern und Summen einzusaugen. Die ersten Blüten sind schon da – zu früh zwar, sie gaukeln uns was vor, was noch nicht sein darf.

Diese Woche habe ich Ferien und etwas Zeit um zu schreiben. Die nächsten Ferien sind Mitte März, da fliege ich nach Hurghada, um zu sehen, was in unserer Wohnanlage läuft, meine Wohnung zu geniessen und viel Sonne zu tanken. Dann melde ich mich wieder.

4 Kommentare:

  1. Erstmal danke für Ihre Erfahrungen. Ich musste unglaublich viel lachen, als ich Ihre Zeilen las. Was für uns selbstverständlich und erdrückend ist, ist nach 15 Jahren Ägypten wahrscheinlich eine riesige Herausforderung. Aber schön und interessant, das zu lesen. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen weitergeht, aber Ägypten ist sicher genau so herausfordernd, aber lebenswert. Alles Gute Falk

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    1. Danke Falk! Der Blickwinkel verändert sich halt je nach Standpunkt ;) LG

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  2. Freiheit hat seinen Preis aber auch materielle Sicherheit. Ich empfinde das Leben im Laendle genau so wie beschrieben und vieles mehr. Die Landschaft ist grossartig aber das Klima im Tal sehr belastend.

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    1. Danke Andrea. Ich sage mir auch immer, dass alles seinen Preis hat.... Schön, wenn man wählen kann oder mehrere Varianten auswählen kann ❤️ LG

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