Freitag, Mai 25, 2012

Ein Schock

Anders kann man das nicht mehr nennen: was die vorläufigen Wahlergebnisse seit gestern Mitternacht zeigen, ist wahrlich ein Schock.

Nach Auszählung der Stimmen von 25 der 27 Gouvernements hat Mohamed Mursi angeblich die höchste Zahl an Wählerstimmen erhalten, gefolgt von Ahmed Shafiq. Wie ist das nur möglich?

Mursi ist der „Ersatzreifen“ der Muslimbrüder – der Ausdruck stammt von den Ägyptern – und ist erst vor fünf Wochen ins Kandidatenrennen eingestiegen. Die Propagandamaschinerie der MB lief perfekt geölt auf Hochtouren: Stimmenkauf für 50 Pfund und Lebensmittelpakete für Bedürftige inklusive.

Trotzdem: viele Ägypter sagten, sie seien enttäuscht von der Leistung der MBs im Parlament und würden denen nicht nochmals eine Chance geben. Und dennoch hat ihr Kandidat den höchsten Stimmenanteil erhalten?

Und es kommt noch schlimmer: Ahmed Shafiq ist angeblich der Zweitplatzierte. Das bedeutet, dass die beiden Mitte Juni in einer Stichwahl gegeneinander antreten werden. Er ist ein „Felul“, ein Vertreter des Regimes, ebenfalls erst vor kurzem ins Rennen gestiegen, wohlwissend, dass er auf bewährte Unterstützung zurückgreifen konnte.

Was für eine Auswahl ist das: einer der die Scharia einführen möchte, dessen Partei aber inzwischen für ihre politische Unfähigkeit und ihre Lügen bekannt ist, gegen einen, der das alte Regime verkörpert? Armes Ägypten! Was für ein Schock!

Überraschend erfolgreich hat sich Hamdeen Sabbahi gehalten, der die drittmeisten Stimmen erhielt. Er wurde von den Intellektuellen und von der Mittelschicht gewählt. Abgeschlagen sind Abu El Fatuh, der abtrünnige Muslimbruder, der auch die Salafisten hinter sich scharen konnte, und Amr Moussa, der Staatsmann und ehemalige Präsident der Arabischen Liga.

Komisches Ergebnis, wenn ich es mir überlege. Schlussendlich kommt es aber doch so heraus, wie ich es schon lange vermute oder befürchte: Shafiq (oder soll ich gleich „SCAF“ sagen?) wird gewinnen. Es kann nicht anders sein. Ich nannte den Namen in meinen vorherigen Blogs nicht, wollte nicht „besserwisserisch“ sein. Aber wenn ich den Schock etwas wegschiebe, sehe ich klarer: es sieht aus, wie eine schallende Ohrfeige, wie eine Rache des SCAF an das aufmüpfige Volk Ägyptens. Es sieht aus wie eine böse Strafe: nun seht ihr, was euch eure Revolution gebracht hat: entweder ein Religionsstaat oder aber wir machen weiter wie bisher. Ägypten schafft offenbar das Unfassbare: es entfacht eine Revolution, jagt einen Diktator davon, bezahlt dafür mit Blut und einem Wirtschaftszusammenbruch, um kurze Zeit später einen Vertreter derselben Diktatur zum Präsidenten zu erkoren.

Aktivisten, Revolutionäre und Liberale wissen nun auch, dass sie die vergangenen 15 Monate nicht gut genug genützt haben. Sie werden daraus lernen.

Daraus lernen werden auch jene, die die Macht haben und nicht verlieren wollen. Was für ein Desaster. Was für ein weiter weg hat Ägypten noch zu gehen, um wahre Selbstbestimmung, Freiheit und Demokratie zu erreichen.

Der Schock sitzt tief, nicht so sehr bei mir, sondern bei den Leuten um mich herum.

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