Mittwoch, Mai 23, 2012

Heute wird gewählt

Heiss ist es heute. Sehr heiss. Schon um neun Uhr morgens zeigte mein Thermometer über 33° C im Schatten. Es soll noch heisser werden, auch im übertragenen Sinne.

Denn heute ist der erste von zwei Wahltagen, an denen die Ägypter einen Präsidenten wählen, ohne im Voraus zu wissen, wer es sein wird. Die Mehrheit weiss aber nicht, wen sie wählen soll. Ich fragte einige Bekannte.

S. fährt nach Alexandria, denn er ist dort registriert und muss somit dort wählen. Er werde sich während der langen Autofahrt überlegen, für welchen Kandidaten er die Stimme abgeben soll. Er hat um die neun Stunden Zeit.

M.R. ist nach Ismaijlia (das liegt am Suezkanal) gefahren. Er ist ein sehr konservativer, traditionell veranlagter und deshalb sehr religiöser Mensch. Wählt er einen Muslim? Nein, auf keinen Fall: mit seinen Händen beschreibt er die langen Bärte der Salfisten und Muslimbrüder und meint dazu, dass sie trotz ihren langen Bärten alle Lügner seien. Was aussen steht, ist nicht unbedingt auch drinnen.

Unser Wachmann M., ein älterer, höflicher Herr, der gerne mit mir ein Schwätzchen hält, hat sich für Amr Moussa entschieden. Nach langem Überlegen. Er bleibt dem Altbewährten treu. Und hofft.

M.A., ein junger, überraschend aufgeschlossener Mann, tendiert zu Hamdi Sabbahi, einem Nationalisten und Nasseristen. Sabbahi hat in den letzten Tagen bei den Umfragen grossen Zuwachs erhalten. Er steht wohl für das kleinste aller Übel. Aber M.A. kann auch nicht in sein Heimat-Governorat fahren – also keine Wahl.

Ein politisch sehr versierter, radikaler, gebildeter junger Mann, S.K., wählt überhaupt nicht. Er ist von keinem der Kandidaten bzw. deren Programmen überzeugt.

„Und wen wählst du morgen,“ fragte ich gestern Abend einen Freund. „Ich darf nicht. Ich bin in Alexandria registriert und habe keine Möglichkeit, dorthin zu fahren.“ Er regt sich darüber auf, dass jene Ägypter, die im Ausland leben, wählen dürfen; er aber, und mit ihm Hunderttausende, darf nicht wählen, obwohl er in Ägypten lebt. Wie ungerecht!

Doch nicht nur die Lebenden sind auf den Wahllisten, sondern auch Tote, Soldaten und Polizisten, die eigentlich nicht wählen dürften. Warum sind sie denn auf den Listen? Sie unterstützen jene Kandidaten, die vorbestimmt sind oder sein sollen oder müssen…

Wenn die Islamisten verlieren, prophezeit S.K., machen die Ärger und gehen wieder auf den Tahrirplatz. Und wie soll der Militärrat sich dann verhalten? Gewalt? Bei der derzeit herrschenden Waffendichte in Ägypten und der Gewaltbereitschaft unter den Islamisten birgt das eine gewisse Explosionsgefahr.

Jetzt ist Mittag und im Schatten hat es 39° C. Ein heisser Tag. Die nächsten Tage soll es noch heisser werden – in jedem Sinne.

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