Mittwoch, Juni 15, 2016

Espresso mit Gespräch

Seit er hier in Hurghada arbeite, das seien jetzt vier Jahre, war er erst vier oder fünf Mal am Strand. Schwimmen könne er nicht so gut und alleine könne er nicht an den Strand gehen.

„Mein grösstes Problem bin ich selbst“, meint der junge Kellner. Er habe Probleme im Kopf, mit seinen Muskeln, mit dem Herzen. Drum könne er auch nicht schwimmen gehen.

Heute ist Ahmed besonders gesprächig, während ich bei 40° C im Schatten meinen nachmittäglichen Espresso trinke.

Er erzählt weiter, manchmal auf Arabisch, das ich schwer verstehe, weil er Slang redet und das in einem Wahnsinnstempo, manchmal auf Englisch, das ich auch nicht immer verstehe, weil er es nicht gut kann. Er vertraue auch niemandem hier in Hurghada. Die Leute würden sich als Freunde ausgeben und einen dann hinterrücks betrügen. Jeder hier mache schlechte Erfahrungen, meint er und fügt lächelnd hinzu: „Das hat auch was Gutes: beim nächsten Mal bist du gewarnt.“

Weil er niemandem traue, rede er auch mit niemandem über seine Probleme und Sorgen. Er rede mit dem, dem er vertrauen könne, also mit sich selbst. Am liebsten im Bad vor dem Spiegel. Stundenlang. Sein Arbeitskollege, den er schon seit zwei Jahren kennt, versteht das nicht. Ahmed will ihm seine Sorgen nicht anvertrauen. Dabei ist Ragy, der Arbeitskollege, ein überaus hilfreicher, ruhiger, netter und sozialer Typ.

Ich frag nach Ahmeds Geburtstag, möchte ihm ein Sternzeichen zuordnen. Seine Antwort jedoch überrascht mich: „Ich weiss es nicht.“

„Was, wie geht das, du weisst dein Geburtsdatum nicht?“


„Nein, wirklich nicht.“

„Aber deine Mutter weiss es doch bestimmt?“

„Nein, sie auch nicht. Ich habe noch sieben Geschwister,“ ergänzt er mit schiefem Grinsen. Quasi, wie soll sich da seine Mutter an seine Geburt erinnern?

Er weiss nur, wann seine Geburt registriert wurde; das war, als sein Vater mal wieder von der Arbeit im Ausland nach Hause gekommen ist. Aus dem Irak, aus Saudi-Arabien, aus Libyen, aus den Emiraten – er weiss es nicht. Er weiss auch nicht, wie alt er damals war, als er endlich offiziell angefangen hat zu existieren.

Er fährt fort: „Meine Mutter war schwanger, als mein Vater wegging. Und als er nach ein paar Jahren zurückkam, fand er einen Sohn mehr in seiner Familie vor.“

Ich stelle mir in Gedanken vor, was das für ein Leben für seine Mutter war. Sie wird geschwängert, er geht weg, um im Ausland Geld zu verdienen. Er schickt das Geld nach Ägypten, um seine unbekannte Familie zu ernähren. Die Mutter muss sich um alles kümmern, wird womöglich von den männlichen Familienmitgliedern unterstützt oder im schlimmeren Fall bevormundet. Der Vater kommt mal wieder zurück, schwängert seine unbekannte Ehefrau, geht wieder ins Ausland. Und so fort.

„Und als mein Vater genug hatte vom Ausland und sich in Ägypten niederlassen wollte, war kein Geld mehr da. Dabei hat er immer Geld nach Hause geschickt.“

Wohin ist denn das Geld geflossen? Ahmed macht eine hilflose Geste. Sein Grossvater habe es an die Brüder seines Vaters verteilt und jetzt ist nichts mehr da. Er erzählt das nüchterner als ein Fussballergebnis.

Ahmed geht weg, muss den Whirlpool einschalten. Ich steh da und hänge meinen Gedanken nach. Die Familienumstände von Ahmed sind für die ärmere Bevölkerungsschicht von Ägypten völlig normal. Millionen von Ägyptern haben in den vergangenen Jahrzehnten ein Auskommen in anderen arabisch-sprachigen Ländern gesucht.

Emigration, dauerhaft oder vorübergehend, ist auch jetzt wieder ein aktuelles Thema und nicht nur bei den ärmeren Ägyptern. Das Land bietet seiner Jugend keine Perspektiven.

Ich lass meine leere Espressotasse stehen und geh voller Gedanken zurück in meine Wohnung.


2 Kommentare:

  1. Was mich wundert ist die Bereitschaft das Familienleben zu opfern für ein wenig Geld dass dann ohnehin nicht zur Verfügung steht. Hat ihn seine Frau nicht aufgeklärt was mit dem Geld passiert? Man kann in Ägypten von fast nichts leben, da man eigentlich noch nicht einmal eine echte Bleibe braucht, da es ja nie regnet und nie wirklich kalt wird. Ich könnte mir auch vorstellen in einem Campingbus dort zu existieren und von Strand zu Strand zu fahren. Das Essen selbst ist kostengünstig, die medizinischen Behandlungen für Ägypter umsonst. Solange man sich etwas zu essen besorgen kann, kann man den ganzen Tag tun wonach einem ist. Bücher lesen, sich bilden ein wenig arbeiten um sich das Essen zu verdienen.

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  2. Der Blickwinkel des Europäers kollidiert mit der ägyptischen Realität 😕

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