Sonntag, Februar 06, 2011

Ein Stück Alltag

Gestern ist einer meiner Schüler wieder erschienen und heute Morgen ein weiterer. Ersterer hätte am Nachmittag wieder kommen sollen, ist aber wegen einer Krisensitzung mit Hurghadas Gouverneur und Vertretern des Tourismusministeriums nicht gekommen. Nein, ich glaube kaum, dass ich etwas über diese Sitzung erfahre.

Als ich mit dem Rennrad am Bankviertel vorbei fuhr, sah ich eine grosse Menschenmenge vor einzelnen Banken stehen. Die Banken hatten heute erstmals für ein paar Stunden geöffnet. Vor der CIB standen sicher über sechzig Leute!

Ein Stück Alltag am 13. Tag des Aufstandes, während das Regime die Welt vorführt, allen voran die amerikanische Regierung. Das Machtvakuum ist widerlich und macht mir gleichzeitig Angst. Amerika hat Ägypten über Jahrzehnte hin mit Milliarden von Dollars gefüttert und gestützt – und findet nun kein Mittel, um den ungeliebten Diktator loszuwerden. Es wäre lächerlich, wenn es nicht gleichzeitig auch so tragisch wäre und nicht so einschneidende Konsequenzen hätte.

Je länger es dauert, umso schlimmer wird alles. Das Regime hungert nun die Demonstranten aus – wer weiss, ob sie durchhalten und das Spiel durchschauen. Journalisten sind bedroht, eingesperrt und werden behindert. Das ägyptische Fernsehen erzählt währenddessen allerlei Märchen – welche viele einfache Menschen, die keinen Zugang zu Internet oder Twitter haben – glauben (müssen). „Divide et Impera“: ob es das Regime schafft, die vereinten Protester und somit das Land zu entzweien und in einen Bürgerkrieg zu stürzen? Alles scheint momentan möglich. Grauenhaft.

Immer mehr Bekannte und Freunde teilen mir mit, dass sie keine Arbeit mehr haben. Hinter jedem Einzelnen verbergen sich Schicksale.

Inzwischen tauchen immer mehr Videos im Internet auf, die zeigen, wie Demonstranten kaltblütig aus dem Hinterhalt erschossen werden. Es tauchen Videos auf, in denen geflohene Gefängnisinsassen erzählen, wie sie frei gelassen, bewaffnet und aufgefordert wurden, zu plündern und gegen die friedlich Demonstrierenden vorzugehen.

Momentan scheint kein Kraut gegen den Diktator gewachsen, noch spielt er alle Trümpfe seiner über Jahrzehnte aufgebauten Machtstruktur aus. Wann ist endlich Schluss?

Freitag, Februar 04, 2011

"Tag der Abreise" ohne Abreise

Wir warten. In Hurghada geht es uns gut. Aber wir warten. Manchmal ist es unerträglich, denn nichts scheint sich zu bewegen. Heute ist zudem die Luftfeuchtigkeit so hoch, dass die Wäsche nicht mehr trocknet. Warten. Eine Revolution wird nicht in einem Tag durchgeführt.

Einer meiner „letzten“ Schüler rief mich an um mitzuteilen, dass er morgen nicht komme, denn sie würden ihr Geschäft schliessen. Es ist das grösste Lederwarengeschäft weit und breit und hat Bus weise Russinnen und Russen mit Lederjacken, -mänteln und –taschen beglückt. Er melde sich wieder. Sein Vater möchte auch kommen. Ich nenne ihn nur den „1‘000 $-Papa“, weil er mir dies als Belohnung versprochen hat, wenn er bei mir Englisch reden lernt! Nicht schreiben und lesen – nur reden! Zum Glück weiss ich inzwischen, wie ich mit solchen Äusserungen umgehen soll: bisher ist der 1‘000 $-Papa erst zu einer einzigen Unterrichtsstunde gekommen.

Hoffentlich halten sie durch! Wieder sind heute Millionen Ägypter auf Strassen und Plätzen gewesen und haben demonstriert. Kämpfe – ja, Kämpfe! – gab es wohl nur vereinzelt und das Militär schützt die Demonstranten etwas besser.

Und wieder hat sich Mubarak nicht durchringen können. Auch wenn hinter den Kulissen Druck gemacht wird.

Ich habe auch nichts gemacht. Diskutiert, ferngesehen, mein Knie behandeln lassen. In Dahaar habe ich noch Früchte, Tomaten und frische Kräuter geholt. Frische Minze für Tee, Rucola für die Tomaten. Der Markt war nicht sehr voll – wie immer am Freitag. An der grossen Kreuzung standen drei Panzerwagen und Soldaten.

Vorhin kam noch der Wohnungsbesitzer vorbei. Er meint, es würde so rasch aufhören, wie es angefangen habe. Was: die Demonstrationen oder Mubarak? Beides meint er. Soll er Recht haben und zwar schnell! Ägypten könnte nun eine Vorreiterrolle im Nahen Osten übernehmen und zeigen, wie man eine Diktatur in ein demokratisches arabisches Land führt. Wenn es aber noch lange in diesem Machtvakuum verbleibt, sind andere Kräfte vielleicht plötzlich schnell da, um dieses mit unerwünschten Elementen zu füllen. Die Zeit drängt…

Angeblich öffnen die Banken am Sonntag wieder; das wäre ein Schritt in Richtung Normalisierung. Internetbanking funktioniert, so kann ich endlich meine Miete bezahlen.

Wenn ich im Bus oder im Zentrum unterwegs bin, stelle ich mir dauernd vor, wie die Ägypter jubeln werden… es wird ein unglaublicher Aufschrei sein und gefeiert werden bis zum Umfallen… Noch ist es aber nicht so weit.

Donnerstag, Februar 03, 2011

Widersprüchliche Informationen

Gestern Nacht rief mich noch eine ägyptische Bekannte an, nervlich am Limit und verängstigt, es gäbe sicher bald kein Brot mehr, kein Benzin, kein Wasser usw. Ihr Ehemann hätte vorgestern dieses und jenes nicht mehr im Geschäft gefunden.

Ich kann mir das nicht vorstellen, obwohl ich weiss, dass abseits von Kairo auch andere Städte nicht mehr gänzlich mit Lebensmitteln versorgt werden. Etwas besorgt ging ich schlafen.

Heute Morgen nun die Nachricht, dass es vergangene Nacht mehrere Tote gegeben hat. Es ist erschütternd, was in Kairo geschieht. Ich empfinde wahre Bewunderung für die Aktivisten und Demonstranten, die weiterhin ausharren und nicht aufgeben, ungeachtet der Gewalt und des Terrors, der wechselnden Strategie des Regimes und physischen Entbehrungen. Widersprüchliche Informationen kommen von Seiten der Regierung: Entschuldigungen für die Gewalt, Untersuchungen zu den Gewalteinsätzen. Und weiter: dem ehemaligen (und von den Ägyptern verhassten) Innenminister und weiteren, dem Regime nahe stehenden Personen, wurde untersagt, das Land zu verlassen.

Sicherheitshalber mache ich mich nochmals auf den Weg, um Wasser und Brot und anderes einzukaufen: ich finde alles, ausser Jogurt – das auch zu nicht-Revolutions-Zeiten manchmal unauffindbar ist. Auch die Tankstellen sind bedient. Etwas lächerlich komme ich mir fast vor: ich kann mir alles beschaffen, beobachte das Geschehen vom Sofa aus – ok, ich habe keine Arbeit – während andere ihr Leben riskieren oder nicht mehr wissen, wie und wo Lebensmittel zu beschaffen sind.

Eine weitere Mutter einer meiner Schülerinnen teilt mir mit, dass sie und ihre Tochter vorübergehend nach Hause fliegen. Und eine mir lieb gewordene Russin verlässt das Land für immer.

Doch es gibt auch gute Nachrichten: die Bankomaten funktionieren und ich fahre noch ins Zentrum Hurghadas, um mich mit Bargeld einzudecken. So kann ich wenigstens mal einen Teil meiner Miete bezahlen. Bisher hat sich der Wohnungsbesitzer nicht gemeldet, er hat seit Tagen rund um die Uhr gearbeitet und heute meldete er mir, dass alle seine Touristen ausgeflogen seien. Er ist Manager eines grossen Tour Operators. Er ist zuversichtlich, dass die Geschäftstätigkeit rasch wieder zurückkehren wird. Hoffen wir’s.

Alles scheint von morgen dem „Tag der Abreise“ abzuhängen. Soeben heisst es, dass Mubarak „genug“ habe von seinem Präsidentendasein. Sieht so aus, dass das Ende naht.



Mittwoch, Februar 02, 2011

Blankes Entsetzen

Ich bin den ganzen Tag nicht aus dem Haus gegangen, habe versucht, Dinge für mich zu erledigen, die Zeit in Ruhe zu nützen. Bevor ich eine Korrekturarbeit anfangen wollte, bekomme ich in Al Jazeera mit, dass der Internetzugang wieder hergestellt ist.

Darüber freue ich mich, es ist eine grosse Erleichterung.

Doch gleichzeitig eskaliert die Situation in Kairo. Bewaffnete Schlägertruppen in grosser Zahl knüppeln die friedlich protestierenden Demonstranten nieder. Auf Kamelen und Pferden sind sie plötzlich zur Stelle! Offenbar hat der Sicherheitsapparat diese Tätigkeit erneut übernommen, unter dem Deckmantel von „Pro-Mubarak-Demonstranten“, denn Anti-Mubarak-Demonstranten berichten, dass die Schläger Polizei-Identitätsausweise auf sich tragen. Mubarak scheint sich noch einmal mit aller Gewalt aufzubäumen.

An Arbeiten ist nicht zu denken, ich kann mich nicht konzentrieren. Immerhin kann ich meine Emails beantworten und so all meinen Freunden, die sich besorgt gezeigt haben, beruhigen. Nun erfahre ich von weiteren Reaktionen weltweit und was sonst noch geschieht.

Was jetzt geschieht ist schlichtweg ein Verbrechen – wie das ganze Regime. Es dauert nun schon Stunden und erste Reaktionen der UN werden veröffentlicht. Wie viele Stunden mehr soll es noch andauern? Die Armee greift nicht ein, bleibt weiterhin neutral und die Demonstranten fliehen oder wehren sich mit den primitiven Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen.

Am frühen Nachmittag hat sich eine weitere ägyptische Freundin gemeldet – einfach um nachzufragen, wie es mir geht. Doch sonst bleibt mein Telefon heute stumm. Zwei andere Freundinnen haben meinen Anruf gar nicht angenommen.

Heute muss der letzte Tag sein! Eine weitere Steigerung ist nicht mehr möglich. Gestern waren es über eine Million friedlicher Demonstranten und heute wurde seitens der Regierung erneut mit brutaler Gewalt drein geschlagen. Wann greift hier endlich jemand ein und beendet dieses Regime? Wo ist die schöne-Worte-verbreitende Opposition? Warum kann die Armee nicht mehr bewirken?

Hier noch Hintergrundinformationen vom Geschehen direkt aus Kairo: http://egyptianchronicles.blogspot.com/. Offenbar waren die Schläger von Mubarak nahestehenden Geschäftsleuten bezahlt worden! Für ein paar lausige Pfund verraten die Armen Kerle ihre Landsleute und Bonzen versuchen zu retten, was bereits verloren ist. Gleiches berichten auch die französischen Nachrichten.

Gegen Abend beruhigt sich die Lage in Kairo etwas, doch jetzt haben die Menschen Angst. Trotzdem werden sie nicht aufgeben.

Ein pensionierter Diplomat aus Amerika teilt mir per Email mit, dass heute ein befreundeter ehemaliger US-Ambassador die Nachricht von Präsident Obama mitteilt, dass es Zeit sei zu gehen. Ob’s was nützt? Wir werden es sehen.

Wieder online

Seit einer halben Stunde können wir wieder ins Internet. SMS versenden geht noch immer nicht. Ich bin froh, kann ich wieder mit der Welt kommunizieren.

Doch was jetzt in Kairo geschieht, schockiert mich zutiefst: Pro-Mubarak-Leute gehen mit Waffen auf die friedlichen Demonstranten los. Die Situation wird immer schlimmer. Wo ist da der Ausweg? Es wird immer verzwickter, ich fürchte um die Menschen und auch darum, dass es länger dauern wird, bis wieder Ruhe einkehrt.

Dienstag, Februar 01, 2011

Noch ein Tag des Wartens

Lange habe ich geschlafen, es eilt nicht mehr aufzustehen. Im Moment, wo die Gedanken sich in der Wirklichkeit wiederfinden, kommt dieses lähmende Gefühl zurück.

Mein erster Griff gilt dem Knopf des Fernsehers. Al Jazeera bringt nichts Neues. Mehr Demonstranten, politisch keine Veränderung. Ich frühstücke, räume noch ein paar Sachen auf, ein Ohr immer beim TV, ein anderes beim Telefon.

In der Nacht hat sich die Nachbarschaft etwas belebt, Kairoer, die eine Wohnung oder ein Haus haben, sind her gekommen. In der Wohnung neben mir ist nun auch Leben.

Meine Mutter ruft mich wieder an und wir diskutieren etwas über die Lage. Hurghada ist nach wie vor ruhig. Anschliessend fahre ich knapp zwei Stunden Rennrad, am Checkpoint vorbei, diesmal ohne Probleme. Letztes Mal wurde ich noch angehalten und aufgefordert, mich auszuweisen (was ich nicht konnte!). Die einzige Gefahr für mich besteht seitens der Plastiksäcke, die im starken Wind herumgewirbelt werden. Gerät einer davon zwischen die Speichen oder die Kette, liege ich flach.

Eine Freundin ruft mich völlig aufgelöst an, ihre Tochter käme heute nicht zum Unterricht, sie sei zusammengebrochen. Sie möchte ihre Tochter am Wochenende ausfliegen und das Mädchen möchte um alles in der Welt hier bleiben. Gleichzeitig erfahre ich, dass eine Pro-Mubarak-Demo in Hurghada startet.

Es entfährt mir laut „auch das geht vorüber“. Die haben nun wirklich nichts mehr zu sagen.

Inzwischen sind in ganz Ägypten über eine Million Menschen auf den Beinen, alle mit dem einzigen Ziel: dieses Regime zu Fall zu bringen. Immer noch friedlich. Es ist überwältigend, wie sich die Ägypter vereinen, wohlgemerkt ohne Führung. Nun zeigt sich überdeutlich die wahre Mentalität der Ägypter. Genau deshalb haben sie Jahrzehnte ohne aufzubegehren durch gehalten.

Mein nächster Schüler bleibt auch aus, er meldet sich nicht einmal. Somit widme ich mich endlich mal meinen hundert Quadratmetern Fussboden und putze, unterbrochen von Telefonanrufen, in denen mir weitere Schüler bis auf weiteres absagen, und vom hoffnungsvollen Ausharren vor dem Fernseher.

Ich rufe meinen Arabisch-Lehrer an – auch er hat für die ganze Woche alles abgesagt. Ich melde mich noch bei einem weiteren Auftraggeber, für den ich Korrekturen machen soll, und frage, ob das Interesse und Bedürfnis für meine Arbeit noch vorhanden sei. Endlich mal eine positive Nachricht: ja, aber es eilt nicht, die Publikation der Zeitschrift wird verschoben.

Die Proteste gehen weiter, die Massen nehmen weiter zu, es ist unglaublich, überwältigend – andere Worte dazu finde ich nicht mehr. In Alexandria kommt es zu Gewalt. Es kann nicht mehr lange dauern, die Menschen geben nicht auf und auf diplomatischer Ebene bewegt sich etwas. Zudem steht die Armee nun klar auf der Seite des Volkes. Unverständlich, wie dieser Mann sich noch an etwas klammert, das er schon längst verloren hat. Und: immer mehr Ausländer verlassen das Land.

Das Schweizer Konsulat informiert mich, dass sie nun eine Ausreise empfehlen. Ich werde gefragt, ob ich in den nächsten Tagen beabsichtige auszureisen bzw. ob ich schon einen Flug gebucht hätte. Nein, habe ich nicht. Der Herr bestätigt, dass Hurghada noch immer ruhig und sicher sei. Was ich nicht sage: ich will jetzt nicht gehen. Es ist mir aber klar, dass ich das Land verlassen muss, wenn ich kein Geld mehr vom Automaten beziehen kann oder wenn ich keine Lebensmittel mehr kaufen kann.

Während ich diese Zeilen schreibe, berichtet Al Jazeera, dass Präsident Mubarak in Kürze eine Ansprache an das Volk richten wird. So lange halte ich heute Abend vor der Flimmerkiste aus.

Ich hoffe, wie so viele, dass es endlich zu dem verlangten Schritt kommt. Und dass es eine ordentliche Übergangsregierung gibt, woraus ein neuer demokratischer Staat entstehen kann und den Ägyptern ein menschenwürdiges Leben ermöglichen wird.

Für mich wünsche ich im Moment nur, dass ich wieder Zugang zum Internet habe, meine Berichte aufschalten und wieder mit der Welt kommunizieren kann.

Update:
Nach eineinhalb Stunden Warten erscheint Mubarak im TV: er tritt nicht sofort zurück. Die Proteste werden weiter gehen.