Dienstag, November 22, 2011

Rückeroberung der gestohlenen Revolution

Eigentlich bin ich sprachlos. Zuviel Gewalt, zu viele schreckliche Nachrichten. Nach wenigen Stunden Schlaf weckte mich der Wecker, nur um ein SMS einer Ägypterin zu lesen: sie komme nicht zum Unterricht, sie habe die ganze Nacht die Ereignisse im Fernsehen verfolgt… Tja, was soll ich sagen?

Im gleichen Mass wie die Polizei brutal dreinschlägt, strömten den ganzen Tag weitere Demonstranten in den Städten zusammen, bereit, Ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Die Aktivisten und politischen Parteien formulieren klar ihre Forderungen. Feldlazarette sind eingerichtet worden. Die Demonstrationen nehmen wieder organisierte Formen an, so, wie im Januar und Februar. Für mich ist es tatsächlich der zweite Aufstand. Zehn Monate sind verloren, Ägypten hat bitter dafür bezahlt. Ich verstehe den Begriff „gestohlene Revolution“ immer besser. Aber ich glaube, die Ägypter holen sie sich zurück.

Angeblich hat das Kabinett geschlossen seinen Rücktritt eingereicht – welcher vom Obersten Armeerat jedoch zurückgewiesen wurde. Ich bin überzeugt, dass innerhalb der nächsten 36-48 Stunden die Weichen neu gestellt werden. Sorry, wenn ich mir Erlaube, Prophezeiungen zu formulieren – aber ich kann es mir nicht mehr verkneifen.




Montag, November 21, 2011

Weg von Ägypten

Gestern hatte ich einen neuen „Studenten“ (so nenne ich meine erwachsenen Kunden, die bei mir eine Sprache erlernen wollen). Ich kannte ihn von früher, er war einerseits mein Nachbar und andererseits schon einmal wegen Deutsch bei mir. Doch nun will er Französisch lernen.

Ausgerechnet Französisch? Er murmelte etwas von neuen Möglichkeiten, von veränderter Situation. Doch rasch wurde mir klar: er will wohl auch weg von Ägypten. Als er dann bei mir war, sagte er klipp und klar: ich will nach Québec, Kanada.

Ägypten biete keine Zukunft mehr. Was solle er noch in diesem Land? In den letzten Monaten habe sich alles nur noch verschlimmert. Seine Frau lerne nun in Ismailia Französisch und er hier bei mir. Er habe Verwandte in Québec, es sei ein gutes Land, biete gute  Möglichkeiten.

Er ist nicht der Erste und sicher nicht der Letzte aus meinem Bekanntenkreis. Ein anderer hat eine Schweizerin geheiratet, lernt eifrig Deutsch. Sein Ziel: Deutschland oder die Schweiz.

Ein weiterer Freund ist Libanesischer Abstammung – wo Christen auch verfolgt werden – und plant ebenfalls, nach Kanada auszuwandern. Seine Worte werde ich wohl nicht wieder vergessen: ich geh besser, bevor sie mich noch umbringen.

Die Jungen, gut Ausgebildeten versuchen, das Land auf legale Weise zu verlassen. Und dann gibt es noch jene, die es auf illegale Weise versuchen. Doch: was machen all die anderen, die nicht weg können? Jene, die zu alt sind, keine Fremdsprachen sprechen, Verpflichtungen haben oder es sich schlicht nicht leisten können?

Ägypter lieben ihr Land. Typisch südländisch, ist die Bindung an ihr Land und an ihre Familien enger als es wir Westeuropäer vielleicht empfinden. Wie ausweglos müssen sie sich denn fühlen, um all das hinter sich zu lassen.


Sonntag, November 20, 2011

Kurz vor den Wahlen (IV)

Die Demo wird Folgen haben, schrieb ich gestern spät. Sie ist heute weiter gegangen und wird nicht so rasch wieder abebben. Die von Polizei und Militärpolizei eingesetzte massive Gewalt gegenüber den Protestierenden ist unglaublich. Gleichzeitig heisst es von offizieller Seite, dass die Polizei sich grösstmöglich zurück gehalten hätte! Über Tausend Verletzte und mindestens sechs Tote innert 48 Stunden, zahlreiche Bilder und Videos in Internet und Fernsehen sprechen Bände. Riesige Mengen von Tränengas wird eingesetzt, das den Betroffenen Blut aus Nase und Mund rinnen lässt; manche sind dem Ersticken nahe. Das nennt man Zurückhaltung???

Landesweit sind die Menschen auf der Strasse: Alexandria, Port Suez, Ismailia, Minya, Tanta, Asiut, Qena… und überall die gleichen Bilder: Demonstranten fordern den Abgang der Militärjunta und Polizisten wenden brutale Gewalt an.

Wie weiter? Die Demonstranten fordern, dass Feldmarschall Tantawi abtritt und eine zivile Übergangsregierung eingesetzt wird, um die Forderungen der Revolution umzusetzen. Das ist momentan gar nicht möglich. Die Ägypter werden sich aber nicht mehr mit irgendwelchen Versprechen abfertigen lassen – sie warten schon zu lange auf Tatsachen. Die Demonstranten mit noch mehr Gewalt vertreiben? Ich glaube nicht, dass sie sich vertreiben lassen: sie sind entschlossen, endlich reinen Tisch zu machen.

Und die Wahlen? Ich kann’s mir nicht vorstellen…

Erdbeben

Ein, nein, zwei wirkliche Erdbeben. Gestern früh zitterte das Gebäude, in dem ich wohne, eine kleine Ewigkeit. Genug lange, um mir zu überlegen, was ich tun soll. Hinauslaufen? Auf den Balkon stehen – zu dumm. Ich dachte auch an jene Menschen, die viel stärkere Erdbeben erlebt haben und dabei alles, Hab und Gut und Familienmitglieder, verloren haben. Doch dann hörte das seltsame Scheppern und Zittern von allen sonst so stabil erscheinenden Gegenständen wieder auf.

Ich vergass es, denn die Ereignisse der vergangenen Nacht beschäftigten mich sehr.

Doch heute Morgen – ich lag noch im Bett – spürte ich erneut dieses bekannte Vibrieren; diesmal war es aber weniger stark und weniger lang. Trotzdem hielt ich einen Moment den Atem an… lauschte… spürte… würde es stärker werden?... würde es lange dauern?.... Nein.

Dafür ist die brutale Gewalt von Polizei und Militär gegenüber den Demonstranten wieder voll zutage getreten.


Samstag, November 19, 2011

Kurz vor den Wahlen (III)

Gestern Freitag fand in Kairo die grösste Demonstration seit Monaten statt. Unterstützt wurde sie in weiteren Städten des ganzen Landes. Gefordert wurde eine rasche Machtübergabe des Militärs an eine gewählte zivile Regierung und Präsidentenwahlen vor April 2012.

Zuerst waren die Islamisten präsent (direkt nach dem Freitagsgebet), dann gesellten sich aber alle möglichen Aktivisten, Zivilisten und politische Gruppierungen hinzu. Gegen Abend war die Menschenmasse auf 50‘000 angeschwollen.

Die meisten verliessen den Tahrir Platz in der Nacht, einige wenige Aktivisten blieben aber und campierten über Nacht.

Heute Samstag wurden sie im Laufe des Tages gewaltsam von der Polizei und der Spezialeinheit vertreiben. Als die Polizei weg war, strömten die Demonstranten von allen Seiten, von allen Gruppierungen zurück. Jetzt ist kurz vor Mitternacht und noch immer strömen Menschen zum Tahrir Platz. Gleiches geschieht in allen wichtigen Städten Ägyptens. Präsidentschaftskandidaten stossen zu den Demonstranten hinzu und unterstützen sie – bzw. nützen die Gunst der Stunde.

Die Polizei greift wie gewohnt brutal ein; mehrere Journalisten wurden schwer verletzt und ihrer Ausrüstung beraubt, einer hat sein Auge verloren. Die Zahl der Verletzten steigt von Minute zu Minute und wird nun mit fast 600 beziffert.

Es geht mir nicht aus dem Kopf… Ist das der zweite grosse Aufstand? Die Ägypter haben die Schnauze mehr als voll. Seit Mubarak zu Fall gebracht worden ist, ist alles schief gelaufen. Die Ziele des Aufstandes vom 25. Januar sind boykottiert worden… Stehen die Ägypter jetzt noch ein zweites Mal auf, Islamisten und Säkulare, um sich vereint zu wehren? Werden die Wahlen überhaupt stattfinden? Die heutige Demo wird Folgen haben…




Samstag, November 12, 2011

Kurz vor den Wahlen (II)

Jetzt wird’s interessant: Ein Verwaltungsgericht im Gouvernement Dakhaliya hat einen Gerichtsentscheid gefällt, wonach ehemalige NDP Mitglieder von den kommenden Parlamentswahlen ausgeschlossen sind. Anscheinend kann dieser Entscheid NICHT angefochten werden und kann aufs gesamte Land angewendet werden.

Wenn dem so ist, wird’s wirklich spannend. Die ex-NDPler werden sich mit Händen und Füssen wehren und alle ihnen verfügbaren (Druck-)Mittel einsetzen, um doch noch ins Parlament zu kommen. Noch zwei Wochen bis zu den Wahlen…
Update 14.11.2011:Der Oberste Verwaltungsgerichtshof hat den Entscheid wieder ausgesetzt. Niemand weiss, was als nächstes geschieht...

Mittwoch, November 09, 2011

Kurz vor den Wahlen

Ende Monat finden die ersten „freien“ Parlamentswahlen statt. Ob sie denn wirklich so frei sein werden, bezweifle ich.

Zweieinhalb Wochen vor den Wahlen versinkt Ägypten immer tiefer im Chaos. Die schlechten Nachrichten hören nicht mehr auf und drum mag ich manchmal gar nichts mehr auf meinem Blog schreiben.

Die Muslimbrüder haben die Feiertage (Opferfest) dafür genutzt, die grosse Masse der armen und ungebildeten Bevölkerung für sich zu gewinnen, in dem sie den Kindern Spielzeuge schenkten und den Menschen Nahrungsmittel, vor allem das für viele Familien unerschwingliche Fleisch, zum halben Preis verkauften.

Aktivisten haben schwarze Listen mit Namen von ehemaligen NDP-Mitgliedern publiziert, die sich wieder wählen lassen möchten. Nicht nur ehemalige, sondern auch Minister der jetzigen Übergangsregierung haben Ex-Präsident Mubarak Glückwünsche zum Opferfest überbracht. Der Begriff „schmeicheln“ ist zu wenig kräftig, um das zu beschreiben… Es ist inzwischen jedem klar geworden, dass erst der Kopf des alten Regimes entfernt wurde, der Körper lebt jedoch noch heftig um sich schlagend weiter.

Der Oberste Armeerat hat ein Papier dazu erlassen, wer die neue Verfassung ausarbeiten soll und was darin zu stehen hat. Quer über alle politischen Richtungen ging ein Aufschrei durchs Land, weil die Armee darin ihre Macht festigen will. Anklagen und Verurteilungen von Zivilisten durch das Militärgericht sind an der Tagesordnung. Einige Aktivisten verweigern die Aussage vor dem Militärgericht; einer von ihnen ist seit Monaten im Hungerstreik. Es wurde sogar versucht, ihn als psychisch krank in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Kopten werden willkürlich als Unruhestifter und Verursacher des Massakers vom 9.10.2011 festgenommen und verurteilt. Eine unabhängige Untersuchung gibt es nach wie vor nicht.

Inzwischen schlagen sich in Oberägypten die Menschen die Köpfe ein. Die Tradition der Blutrache hat Oberhand genommen – kein Wunder in einem Land ohne Recht und Ordnung. Ein Freund erzählte mir, dass sich die Leute gegenseitig umbringen wegen einem gestohlenen Huhn, wegen einem Esel, der am falschen Wegrand gefressen hat.

Ich wollte eigentlich zur Abwechslung ein paar Tage nach Luxor fahren, liess es jedoch sein. Freunde raten mir allein schon von der Busreise ab. Zudem herrscht auch dort Krieg zwischen Banden und Familien. In Gruppen reisende Touristen mögen in Sicherheit sein. Aber dorthin alleine zu reisen habe ich absolut keine Lust. Die historischen Stätten werden auch das überleben und auf mich warten…

Somit bleibe ich in Hurghada, geniesse die Sonne und das glasklare Meer und schreibe in der Marina sitzend über die schwierige und langwierige Zangengeburt eines arabischen Landes, das sich aufgemacht hat, eine Demokratie zu werden.