Mittwoch, Juni 08, 2011

Wie Pilze im Frühling

Vieles bewegt sich in Ägypten. Es brodelt und kocht. Die Menschen nützen ihre während über dreissig Jahren unterdrückte Stimme und fordern: einen höheren Mindestlohn, weniger Korruption, bessere Arbeitsbedingungen, einen anderen Vorgesetzten, einen anderen Gouverneur, einen anderen Bürgermeister, die Freilassung von Gefangenen, die Festnahme der korrupten Geschäftsfreunde des Ex-Präsidenten, die Prüfung von Verträgen über Landverkäufe, über die Gaslieferung nach Israel, von Bewilligungen…, einen islamischen Staat, einen säkularen Staat… Sie schreien all ihren aufgestauten Frust heraus, sie verlangen nach all dem, was ihnen Jahrzehnte lang verwehrt geblieben war. Der Frust ist gross, das Blut hitzig, die Armut riesig, die Geduld begrenzt.

Manchmal vergleiche ich die Situation hier mit einem überdimensionierten Dampfkochtopf, dem der Deckel weggeflogen ist und nun bricht alle Kraft hervor, ungestüm, ungeordnet, ungezielt.

Die Übergangsregierung und der Oberste Militärrat handeln, aber (zu) langsam. Der Mindestlohn ist nun erhöht worden, auf 700 ägyptische Pfund (das sind umgerechnet um die 100 Schweizer Franken). Es kostet den finanziell und wirtschaftlich am Abgrund schlingernden Staat ein Vermögen. Viele weitere Forderungen wurden bereits erfüllt, viele weitere müssen warten, denn alle Wünsche können unmöglich umgehend in die Tat umgesetzt werden.


Inzwischen schiessen politische und apolitische Gruppierungen aus dem Boden wie Pilze nach einem milden Frühlingsregen. Die Muslimbrüder haben den Antrag auf Genehmigung einer politischen Partei als erste eingereicht. Widersprüchliche Aussagen begleiten die politischen Aktivitäten dieser von vielen gefürchteten Religionsherren. Zuerst liessen sie verlauten, sie hätten kein Interesse am Präsidentenamt; doch: ein ehemaliges Kadermitglied ist aus der Bruderschaft ausgetreten und hat seine Kandidatur als Unabhängiger für die Präsidentschaft angemeldet. Man hört, dass die Partei der Bruderschaft auch für Kopten und Frauen offen sei – Vizepräsident ist ein Kopte - und auch für das höchste Amt antreten dürfen – dann wieder kommt ein Dementi mit der Begründung, Kopten und Frauen seien dafür ungeeignet. Die Partei soll unabhängig der Religion sein, aber doch nicht ganz. Die Jungen stehen der älteren Generation skeptisch gegenüber, die Bruderschaft ist uneins, zerbröckelt angesichts der neuen Freiheiten und Herausforderungen. Ist das Ablaufdatum erreicht?

Einer der reichsten Geschäftsleute gründet eine Partei mit dem hehren Ziel, eine Zivilgesellschaft aufzubauen mit Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, besserer Bildung, besserem Lebensstandard.

Die Salafisten haben ebenfalls vor, eine politische Partei zu gründen, klar aber mit dem Ziel, einen streng religiösen Staat aufzubauen. Das beisst sich mit der Aussage des Obersten Militärrates, dass keine politische Partei religiös begründet sein dürfe.

Zwischen den genannten Extremen gibt es noch unzählige andere, die sich politisch exponieren möchten. Von denen ist El Baradei im Westen wohl der Bekannteste, Amr Moussa, der ehemalige Präsident der Arabischen Liga, in Ägypten der Unbeliebteste (weil er hinter dem Entscheid der Arabischen Liga stand, Libyen bombardieren zu lassen).

Aktivisten der Revolution distanzieren sich von der Bildung einer Partei und wollen als NGOs wirken. Das gefällt mir; ich glaube, damit können sie mehr bewirken. Sie haben z.B. einen „Bildungszug“ ins Delta und südwärts auf die Strecke geschickt, der den Menschen in den Städten und Dörfern entlang des Nils die Merkmale der Demokratie mit samt ihren Rechten und Pflichten nahe bringt. Als NGOs wollen sie darüber wachen, dass die Revolution nicht missbraucht wird.

Als ob täglich ein milder Frühlingsregen über Ägypten niederginge, spriessen Ideen und Gruppierungen wie Pilze aus dem kargen, verkrusteten Wüstenboden. Aber Pilze vergehen schnell, vertrocknen, schrumpfen, werden gefressen, gepflückt oder zertreten… und schiessen woanders wieder in die Landschaft.

Ägypten hat sich auf einen langen Weg aufgemacht und noch immer ist nicht klar, wohin die Reise geht. Ägypten bettelt die Welt um finanzielle Hilfe an – eine immense Schmach für die stolzen Menschen hier. Sie befürchten, dass das Militär wie einst 1952 wieder die Macht übernehmen will und deshalb die Sicherheitslage im Land eskalieren lässt, … befürchten, dass die Muslimbrüder die Macht übernehmen und einen islamischen Staat bilden werden…, befürchten, dass Iran seine Finger im Spiel hat, … befürchten, dass es noch lange gehen wird. Wie sollen da Investoren wieder Vertrauen finden? Wie sollen da Touristen wieder zurückkommen?

Kleine Schritte führen auch zum Ziel. In Hurghada hat es eindeutig wieder mehr Polizei. Und religiöse Übergriffe sind auch schon seit einiger Zeit keine mehr bekannt geworden… Die Inflation ist zweistellig, aber die Tomaten haben heute nur 3 Pfund das Kilo gekostet statt 5 wie letzte Woche oder 10 wie im November…

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