Sonntag, August 26, 2012

Innerlich zerrissen

Hin

Der Flug ist schon lange gebucht, Mitbringsel gekauft, nur der Koffer sollte noch gepackt werden. Aber ich schiebe das vor mich her, denn ich will nicht wirklich weg. Ich will nicht weg von da, wo ich lebe, wo ich im Moment daheim bin.

Dabei bringt mich die Reise dorthin, wo ich ebenfalls daheim bin: in meine ursprüngliche Heimat. Dorthin, wo liebe Menschen sehnsüchtig auf mein Kommen warten. Dorthin, wo ich Natur und Landschaft kenne, wo ich mit täglichen Abläufen und Routine vertraut bin. Auch dorthin, wo meine persönlichen Sachen sind: Möbel, Fotoalben, Bilder, Bücher, Hausrat, Winterkleider und viele Erinnerungen.

Ich weiss nicht, was ich einpacken soll, obwohl ich genau weiss, welches Klima mich dort erwartet. Ich bin Tage vor der Abreise angespannt und reagiere gereizt auf alle möglichen Fragen: Wie lange bleibst du? Was machst du dort? Weshalb gehst du? Wann kommst du wieder? Kommst du bestimmt wieder?

Ich habe Bauchweh. Ich bin nervös. Ich muss Abschied von dem Ort nehmen, wo ich lebe. Die Freude auf das Dort hat noch keine Chance. Wasser abdrehen, Sicherungen abschalten und Fenster gut schliessen. Ein letzter prüfender Blick: ob wohl alles noch so ist, wenn ich wieder komme?

Die Fahrt zum Flughafen ist kurz, das Warten auf den Abflug umso länger. Der Blick aus dem an Höhe gewinnenden Flugzeug hinab auf die Wüste, auf die chaotische Häuseransammlung mit Swimmingpools, märchenhaften Hotelanlagen am tiefblauen Meer und richtungsgetrennten, zweispurigen Strassen provoziert Fragen: was mache ich denn da? Weshalb lebe ich da? Was hält mich in dieser unwirtlichen, unschönen Landschaft mit Menschen, die eine völlig andere Kultur, Religion und Sprache ihr Eigen nennen? Meine Augen werden feucht, denn trotz allem bindet mich so Vieles an meine Wahlheimat, die so anders ist. Sie hat ein Eckchen in meinem Herzen erobert – oder nein: ich habe sie Stück für Stück erobert, akzeptiert, angenommen und lieb gewonnen.

Viereinhalb Stunden Flug und eine Zugfahrt lang wandeln meine Stimmung. Die Trauer über den Abschied wird von der Freude auf das Dort abgelöst.

Ankommen

Zuhause – ein vielseitig anwendbarer Begriff geworden – ist die Wiedersehensfreude riesig und wieder werden die Augen feucht. Die ersten Tage dienen Akklimatisation und Anpassung, man hat sich vieles zu erzählen, danach folgen Tage voller Aktivität und man stellt fest, dass alles so ist, wie es immer war. Fast zumindest: da und dort steht ein Haus mehr oder weniger, wurde ein Platz verschönert oder die Strassenführung verändert. Die Kinder sind grösser geworden, die grauen Haare und Falten zahlreicher. Im Grossen und Ganzen bleibt alles, wie es ist. Und ganz sachte - wie seltsam – erklingt wieder der Drang, dorthin zurück zu kehren, wo man auch noch zuhause ist.

Ein Blick in die Augen der Lieben provoziert Fragen: Wie kannst du ihnen das antun? Wie kannst du sie wieder so lange allein lassen, sie, die dich lieb haben und vermissen? Der Geschmack ist bitter, der Kloss im Hals lässt mich nicht frei atmen, das Herz ist schwer…

Und doch führen auch sie ihr eigenes Leben, verfolgen ihre eigenen Ziele, verwirklichen ihre eigenen Wünsche und kämpfen mit ihren eigenen Problemen. Trotzdem bleibt beim Abschied eine quälende Ungewissheit im Herzen – sieht man sich auch wieder? Werden sie gesund bleiben? Der Abschied fällt jedes Mal schwerer, obwohl auch er zur Routine geworden und schon x-Mal zelebriert worden ist. Dank Internet schrumpfen die Distanzen und man hört sich öfter, schreibt sich regelmässig – welche Erleichterung!

Und zurück

Zuerst vergeht die Zeit langsam und ich frage mich, was ich so lange hier tun soll. Leider muss man ja das Datum des Rückflugs lange vorher bestimmen. Doch plötzlich geht es viel zu schnell: ich hätte noch dies und jenes wollen oder sollen oder müssen… Und ich erlebe wieder dieselben Gemütsschwankungen wie vor der Abreise. Spätestens beim Flug über die Alpen frage ich mich ernsthaft, weshalb ich diese wunderschöne Landschaft wieder verlasse… Weshalb tausche ich Sicherheit, Sauberkeit und Ordnung, Rechtsstaat, Menschenrechte, Bekanntes und Vertrautes gegen Unsicherheit, Chaos, Korruption, Unterdrückung und Fremdes? Sobald das Flugzeug aber landet und die salzige Wüstenluft in meine Nase dringt, freue ich mich: ich bin wieder daheim. Anders, aber auch daheim.

Daheim und daheim

„Ich habe zwei Zuhause“ meinte eine Freundin, als wir über dieses Thema diskutierten. Sie gehört hierhin und dorthin, fühlt sich an beiden Orten aufgehoben und wohl. Eine andere Bekannte sagte mir, dass sie vor der Abreise jeweils „sehr nahe am Wasser gebaut hat“, sprich, schnell in Tränen ausbricht und das während drei bis vier Wochen. So lange braucht sie, um sich wieder einzuleben.

Bei mir geht es schneller. So, wie ich das Kofferpacken vor mir herschiebe, schiebe ich auch das Auspacken vor mir her. Es quält mich, ich weine, trauere und frage mich, weshalb ich mir das antue. Sobald aber die Waschmaschine läuft und ich mich anschicke, einkaufen zu gehen, damit ich mir zum Frühstück ein Müesli machen kann, und der Internetanschluss wieder aktiviert ist, bin ich wieder daheim - obwohl ein Quäntchen Traurigkeit immer herumlungert.

Viele meiner Bekannten betrachten ihr Leben in der Fremde als ihre Heimat – und vermissen trotzdem ihre ursprüngliche Heimat und besuchen sie, wenn irgendwie möglich, wenigstens einmal pro Jahr.

Niemand kann diese innere Zerrissenheit nachempfinden, der sie nicht selbst erlebt. Das Leben ist nicht einfacher und trotzdem bleibt man. Jeder hat seine ganz persönlichen Gründe dafür; für die einen bleibt es fraglos für immer so und für andere nur für ein paar Jahre. Dann kehren sie wieder dorthin zurück, wo sie ursprünglich herkommen – und nicht mehr hundertprozentig hinpassen. Ich werde auch irgendwann zurückkehren… um allerdings erneut woanders hinzugehen. Innerlich zerrissen, eben.

9 Kommentare:

  1. Liebe Unbekannte und doch Bekannte!
    Seit einiger Zeit lese ich Deinen Blog und kenne das Gefuehl ebenso, zerrissen in zwei Welten zu sein... Deine Worte sind wahr, so wahr!
    Beim Lesen dieses letzten Posts von Dir, oder muss ich Dich Siezen, weil wir uns eigentlich nicht kennen :-), kamen mir die Traenen, die mir immer kommen, wenn ich an mein anderes Zuhause denke, Deine Gefuehle so gut nachvollziehen kann. In diesen Tagen kommt noch hinzu, dass mein Partner und ich uns auf das Weggehen von diesem Ort, unserem anderen Zuhause, wofuer wir die raeumliche Naehe zu unseren Kindern und FreundInnen aufgebenen haben, vorbereiten und wieder in eine andere Welt eintauchen werden... Es ist keine andere Welt, es sind andere Kulturen, andere Gerueche, andere Gewohnheiten... aber wir bleiben WIR, ueberall, so wie jeder eben ist. Zerrissen! Auf der Suche? Muchos saludos Birgit

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  2. Liebe Birgit, wir mögen innerlich zerrissen sein - diese Zerrissenheit ist schlussendlich aber eine unendliche Bereicherung für uns; und auch die können Andere nicht nachempfinden!
    Für mich ist Ankommen nur vorübergehend, denn der Weg geht weiter und der Weg allein ist das Ziel.
    Alles Gute auf deinem Weg!

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  3. Ja, so ist es! Auch Dir weiterhin alles Gute und ... Geduld beim Anstehen... und den vielen anderen Kleinigkeiten, die den Frauen in Aegypten erschwert werden moegen. Pass gut auf dich auf! Liebe Gruesse aus Suedamerika

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  4. Auch wir, also meine Frau und ich, haben jedes mal die größten Probleme, wenn wir dort " nur " für 4 Wochen Urlaub machen, wieder nach Deutschland fliegen zu wollen. Es ist immer das gleiche.....nachdem wir in Hurghada ankommen.... die Fliegertür öffnet sich... alles drängt auf die Gangway... der ersten Atemzug der Wüstenluft.. der erste Geruch in der Nase, der Wind im Haar.... ja.... wir sind zu Hause :-))))))
    4 Wochen.... juhu... was für eine lange Zeit. Aber, leider viel zu schnell wieder vorbei. Noch 5 -6 Jahre...dann gehe ich "fast " in Rente. Fest steht, jetzt schon und sollte sich politisch nichts dramatisches ergeben, werden wir die Wintermonate dort verbringen. Chaos... Chaoten... hin oder her..... wir lieben es :-))

    LG
    Peter

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  5. Birgit: Südamerika wo? Ich bin mehrere Monate dort gereist, als ich noch ganz jung war, allein.... Brasilien wäre so ein Thema.
    Peter: Alles Gute, dass es so kommen mag, wie Ihr es Euch wünscht!

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    1. Hola, wir sind noch in Colombia. Als junge Frau traute ich mich nicht das zu tun, was ich nun unternehme. Als ich 50 wurde hatte ich ein Sabbatjahr und reiste auch weitgehend allein durch Suedamerika, einen Traum hatte ich somit verwirklicht. Der andere war/ist im Ausland zu arbeiten und zu leben! So freute ich mich sehr, eine kleine Deutsche Schule im Ausland zu finden. Nach dieser Erfahrung zieht es mich mehr an eine groessere Deutsche Schule... und danach...? unter "birgit.abroad" kannst du schnuppern...

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    2. birgit ohne Punkt bei blogspot.com :-)

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  6. Ahlan wa sahlan! Schön, dass du wieder zurück bist!
    Ich verlasse morgen das erste Mal nach einem Jahr HRG und kriege trotz der Vorfreude auf Familie/Freunde/Schwarzbrot einen kleinen Krampf im Magen. Vieles in diesem Land kollidiert mit meinen Wertvorstellungen und dennoch habe ich das Gefühl endlich angekommen zu sein (obwohl ich mir früher nicht vorstellen konnten "sesshaft" zu werden).
    Hin- und hergerissen sein - ich werde versuchen die ganze Skala all der Gefühle zu geniessen, denn erst das macht für mich den Menschen und das Leben aus.
    Ich bin schon sehr gespannt auf deinen nächsten Eintrag z.B. bezüglich der neuesten Ausschreitungen wegen dem anti-islamischen Video.
    Alles Liebe,
    Lucia

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  7. Gute Reise Lucia und geniess alles!
    Betreffend Isalm-Video ist alles schon im Kopf... :)

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