Freitag, September 13, 2013

Zurück zur Militärdiktatur?

Seit der Absetzung Mursis durchläuft Ägypten eine weitere hässliche Phase der Revolution. Mit der Erfüllung der Forderungen des Aufstandes vom 25. Januar 2011 nach Brot, Frieden und Gerechtigkeit hat der momentane „Krieg gegen den Terrorismus“ ziemlich wenig zu tun.

Mit Gefühlen spielen
In den Tagen um den 30. Juni und 3. Juli – als Mursi abgesetzt wurde – sowie anschliessend spielte die Armee gekonnt mit den Gefühlen der Ägypter: sie warfen ägyptische Flaggen aus Helikoptern auf die Menschen hinab, zeichneten die ägyptischen Nationalfarben mit dem Schweif von Kampfflugzeugen an den Himmel und liessen keine Gelegenheit aus, sich als Retter der Nation darzustellen. Die Herzen der Ägypter flogen ihrer Armee und dem derzeitigen Armeechef El Sisi blindlings zu. Haben die Ägypter so rasch vergessen, welche Rolle die Armee spielt? Als ich auf Facebook dieses emotionale Spiel seitens der Armee ansprach, war die Reaktion: wir vertrauen unserer Armee, das ist seit Jahrzehnten in unserem Instinkt.

Ich nenne es Manipulation der Massen und staune darüber, dass Militärgerichte für Zivilisten, übermässige Gewalt, Folter und Korruption seitens des Militärs stillschweigend ausgeblendet werden.

Die Armee ist die einzige Institution, die Ägypten aus der katastrophal verfahrenen Situation befreien kann – das bezweifle ich nicht. Es ist auch offensichtlich, dass sich die Muslimbrüder und ihre radikalen Freunde einerseits mit Gewalt, Anschlägen und Bomben rächen und sich andererseits als Opfer darstellen. Auch sie spielen mit den Gefühlen ihrer Landsleute und übrigens auch mit ihren europäischen Partnern. Die Gewalt zu bekämpfen ist sicher Sache der Armee und der Regierung. Die Art und Weise, wie das geschieht, ist allerdings zweifelhaft.
Bevor ich dazu aushole, möchte ich aber noch etwas Besonderes bemerken. Trotz allem habe ich einen gewissen Respekt vor der ägyptischen Armee: sie hat sich nicht dem Willen, dem Druck und den Drohungen des Geldgebers USA gebeugt, sondern hat unabhängig gehandelt. Das könnte eine Verschiebung der Machtverhältnisse im Nahen und Mittleren Osten bedeuten. Ich glaube, das wird interessant werden.

Willkür, Zensur und fehlende Rechtsstaatlichkeit
Zweifelhaft oder je länger je eindeutiger: Tausende von Muslimbrüdern wurden in den vergangenen Wochen festgenommen. Gegen die Führer wurde inzwischen Anklage wegen Aufruf zu Gewalt, Spionage, Landesverrat, Gefängnisausbrüchen und anderen kriminellen Handlungen erhoben. Unter den Tausenden von Festgenommenen ist nicht jeder ein Muslimbruder und nicht jeder Muslimbruder ist gewalttätig oder gefährlich. Willkür.

Mehreren Fernsehstationen wurde verboten, weiterhin ihr islamistisches Gedankengut zu verbreiten. Sie wurden abgeschaltet. Es gäbe sicher andere Mittel, die Hetze der Islamisten zu Anschlägen gegen Christen, ihre Kirchen und Geschäfte sowie gegen staatliche Einrichtungen zu unterbinden. Mehrere Journalisten wurden bei ihrer Arbeit auf der Strasse getötet, andere unter seltsamen Verdächtigungen festgenommen. Zensur und Willkür.

Das Notrecht wurde um zwei weitere Monate verlängert. Das bedeutet, dass weiterhin jeder zu jederzeit und überall festgenommen werden kann. Denunziation ist ausreichend. Die Ausgangsperre wurde jedoch verkürzt (hier am Roten Meer galt sie sowieso nie). Willkür und fehlende Rechtsstaatlichkeit.

Gegen die Muslimbrüder wurde eine Hasswelle eingeleitet, die sich zu einer wahren Lawine ausgebreitet hat. Männer mit Bart tun gut daran, diesen abzunehmen. Ich erzählte einem Freund, dass ein Kopte mit Bart auf der Strasse zusammen geschlagen wurde, in der Annahme, er sei ein Muslimbruder. Die Reaktion meines Freundes – übrigens ebenfalls ein Kopte – schockierte mich: aber es sei gut, wenn die Muslimbrüder zusammen geschlagen würden! Gibt es kein anderes Mittel, um gegen eine verbrecherische und terrorisierende Organisation vorzugehen? Mein Freund erkannte zerknirscht, in welche Falle er getappt war. Hunderttausende von anderen leider nicht. Sie folgen blindlings der Propaganda von Militär und dem Innenministerium.

Der Innenminister ist derselbe wie unter Mubarak. Die Richter haben keinen Einzigen der Angeklagten von Mubarak und seinen Getreuen verurteilt. Kein Polizist ist für die Tötung eines Zivilisten verurteilt worden. Tausende von Aktivisten und willkürlich gefangen genommene Menschen hocken ohne Anklage und Urteil in den Verliesen der Gefängnisse. Hunderte von Menschen sind verschwunden und niemand weiss oder will preisgeben, wo sie sind bzw. wie und wo sie umgekommen sind.

Nach dem Aufstand ist vor dem Aufstand
Die Regierung und die Armee versuchen entstehende Zweifel an ihrem derzeitigen Tun zu zerstreuen, versprechen keine Rückkehr zum alten System wie unter Mubarak. Doch viele Zeichen zeigen in genau jene Richtung. In den vergangenen zwei Monaten hat sich einfach gar nichts verbessert, sondern nur noch verschlechtert. Das einzig Positive, das ich erkennen kann, ist, dass offenbar jemand wieder den Überblick über die staatlichen Finanzen hat, davon etwas versteht und gewillt ist, diese in Ordnung zu bringen. Logisch, denn darin sind die „Feloul“ (eben jene Machthaber aus Mubaraks Zeiten) sowie das Militär stark.

Schon sind Stimmen zu hören: besser eine Militärdiktatur, als die Muslimbrüder… El Sisi soll Präsident werden… Wir lieben unsere Armee… Ach, wie kurzzeitig ist das Gedächtnis der Menschen! Und doch kann ich es verstehen: die Menschen wollen endlich wieder essen, trinken, lachen, tanzen und ein friedliches Leben führen.

Die Liebe zur Armee wird nicht ewig dauern, der nächste Aufstand ist vorprogrammiert, wenn die Herren der Übergangsregierung und Armeevertreter nicht bald klüger und überzeugender handeln. Das Gezerre um Macht wird weiter gehen. Leider.


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