Mittwoch, Dezember 18, 2013

Scham oder was?

Mein „Püppchen“ ist nicht wie vereinbart zum Unterricht gekommen. Das Mädchen ist erst neun, klug und kommt gern zu mir. Neulich zeigte sie mir vor Stolz beinahe platzend ein Diplom für die beste Note in Englisch.

Ich rief ihren Vater an – keine Antwort. Ich machte mir Sorgen. Noch versuchte ich, zwei Nachrichten über Autounfälle zu verdauen: der fünfjährige Schüler einer Freundin wurde überfahren, der Ausfahrer der Bäckerei und seine Frau schwer verletzt. Was ist meinem „Püppchen“ passiert? Was ist ihren Eltern passiert?

Am Tag des nächsten Unterrichts rief ich den Vater nochmals an – diesmal antwortete er: „Es tut mir leid, ich war den ganzen Tag unterwegs, hatte viele Probleme und hatte das Handy im Auto vergessen und als ich am Abend den Anruf sah, habe ich mich geschämt und getraute mich nicht, zurück zu rufen“ und so weiter…

Als das Mädchen da war, habe ich sie gefragt, weshalb sie nicht gekommen sei. „Es war kalt“ hiess die ehrliche Antwort.

Ich habe sie dann gefragt, wie sie sich fühlen würde, wenn sie bei mir läutete und ich die Türe nicht öffnete, sondern im Bett bliebe, weil es dort wärmer wäre. Sie hat verstanden, worum es geht.

Ich weiss, dass Ägypter für uns Europäer seltsam anmutende Schamgefühle haben. Doch was ist denn nun schlimmer: eine Notlüge auszusprechen, anstatt schlicht zu den Tatsachen zu stehen („es ist zu kalt, wir kommen heute nicht“) oder von der Tochter und ihrer Lehrerin als Lügner entlarvt zu werden? Was für ein Vorbild ist der Vater für seine Tochter? Was ist das für eine Generation von Eltern?

Einer meiner ägyptischen Freunde lachte darüber und meinte: das machen viele so. Alle Lügen, nur wenige hätten den Mut, ehrlich zu sein. Tugend und Respekt sind Mangelware geworden.


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