Mein „Püppchen“ ist nicht wie vereinbart zum Unterricht
gekommen. Das Mädchen ist erst neun, klug und kommt gern zu mir. Neulich zeigte
sie mir vor Stolz beinahe platzend ein Diplom für die beste Note in Englisch.
Ich rief ihren Vater an – keine Antwort. Ich machte mir
Sorgen. Noch versuchte ich, zwei Nachrichten über Autounfälle zu verdauen: der fünfjährige
Schüler einer Freundin wurde überfahren, der Ausfahrer der Bäckerei und seine
Frau schwer verletzt. Was ist meinem „Püppchen“ passiert? Was ist ihren Eltern
passiert?
Am Tag des nächsten Unterrichts rief ich den Vater nochmals an
– diesmal antwortete er: „Es tut mir leid, ich war den ganzen Tag unterwegs,
hatte viele Probleme und hatte das Handy im Auto vergessen und als ich am Abend
den Anruf sah, habe ich mich geschämt und getraute mich nicht, zurück zu rufen“
und so weiter…
Als das Mädchen da war, habe ich sie gefragt, weshalb sie
nicht gekommen sei. „Es war kalt“ hiess die ehrliche Antwort.
Ich habe sie dann gefragt, wie sie sich fühlen würde, wenn
sie bei mir läutete und ich die Türe nicht öffnete, sondern im Bett bliebe,
weil es dort wärmer wäre. Sie hat verstanden, worum es geht.
Ich weiss, dass Ägypter für uns Europäer seltsam anmutende
Schamgefühle haben. Doch was ist denn nun schlimmer: eine Notlüge
auszusprechen, anstatt schlicht zu den Tatsachen zu stehen („es ist zu kalt,
wir kommen heute nicht“) oder von der Tochter und ihrer Lehrerin als Lügner
entlarvt zu werden? Was für ein Vorbild ist der Vater für seine Tochter? Was
ist das für eine Generation von Eltern?
Einer meiner ägyptischen Freunde lachte darüber und meinte:
das machen viele so. Alle Lügen, nur wenige hätten den Mut, ehrlich zu sein.
Tugend und Respekt sind Mangelware geworden.
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