Freitag, Oktober 10, 2014

Komfortzone verlassen

Es gibt da diese Momente, Stunden und Tage, an denen ich es hier fast nicht aushalte. Ich werde schier wahnsinnig über Zustände, die ich in solchen Momenten nicht einfach so hinnehmen kann. Ganz kluge Leute sagen dann „du bist im falschen Land“. Sie haben Recht – aber nur in jenen Momenten, die zum Glück ja nicht anhalten.

Eine solche Situation erduldete ich heute wieder. Am Ausgang des Einkaufszentrums wartete ich mit meinem Grosseinkauf inklusive Tiefkühlprodukten auf den Bus. Theoretisch sollte er alle 30 Minuten abfahren. Das klappt in der Regel nicht. Eine Verspätung von 10-15 Minuten ist sehr wahrscheinlich und damit kann ich leben. Oft aber kommt der Bus überhaupt nicht (meist dann, wenn ich Eiscrème oder Frischmilch gekauft habe), z.B. weil der Fahrer eine ungeplante Essenspause einbaut. Im Fahrplan ist nämlich nicht vorgesehen, dass ein Mensch eine Pause braucht und essen möchte. Die Busse stehen einfach da, fahren aber nicht, weil sie fahruntüchtig sind. Repariert werden sie irgendwann, bis dahin gilt der Fahrplan halt nur lückenhaft. Das ist nicht nur Geduld gefragt, sondern mit der Zeit tauen auch die Tiefkühlprodukte auf (was mache ich mit einem Liter flüssiger Eiscrème?) und die Frischmilch wird sauer. Die Lösung sind dann die Taxis, die an dieser Stelle Mafia-mässig betrieben werden – ein anderes Übel.

Andere Situation: gestern bestieg ich einen dieser verlotterten Minibusse, dessen Schiebetüre verklemmt ist und deshalb auch während der Fahrt offen steht. Die Sitze sind zerfleddert. Alles egal: der Tarif wurde trotzdem verdoppelt!

Solche und andere Geschichten mache ich täglich mit, meist mehr oder weniger gelassen.

Doch weshalb mache ich das mit?

In meinem Heimatland könnte ich ein äusserst bequemes Leben führen. Ich könnte eine schicke Wohnung mieten, ein tolles, zuverlässiges Auto fahren und wie eine Modepuppe gekleidet herumlaufen. Ich mache es nicht. Stattdessen nehme ich Unannehmlichkeiten in Kauf, die mich manchmal zum Verzweifeln bringen. Nicht nur mich, übrigens.

Warum also doch?

Weil es noch eine, nein, viele andere Seiten gibt. Die Begegnungen mit Menschen aus aller Welt. Die herzlichen, aufrichtigen Freundschaften. Heute z.B. rief mich meine Arabisch-Lehrerin an und fragte, wie es mir gehe. Sie hätte gestern den Eindruck gehabt, ich sei bedrückt – dabei haben wir überhaupt nicht über so etwas geredet; es war einfach ihr Gefühl.

Dazu gehört der Einblick in andere Kulturen und Verhaltensmuster. Daraus folgt das Reflektieren über sich selbst und die eigene Kultur, die eigenen Werte. Es ist ein endloser Austausch von Erfahrungen, Erlebnissen und Erkenntnissen, eine Endlosschlaufe von Fragen, Antworten und Verstehen, die weitere Fragen aufwerfen, Antworten findet und in Verstehen mündet.

Die Komfortzone verlassen bedeutet nicht nur (hauptsächlich materiellen) Verzicht, sondern auf anderer Ebene eine riesige Bereicherung. Es bedeutet, seinen Horizont zu erweitern und dabei Bekanntes hinter sich zu lassen. Ich bin nicht mehr derselbe Mensch, der ich war, als ich nach Ägypten kam. Was ich hier gesehen und erlebt, erfahren und erlitten habe, hätte ich niemals in meinem komfortablen Leben – trotz Aufgeschlossenheit, Literatur und Reisen – erkennen können. Es sind wertvolle Erfahrungen, die ich nicht missen möchte und deshalb mache ich weiter, auch wenn ich manchmal schier verzweifle.



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