Montag, Juli 09, 2012

Kinderstube: wo versteckst du dich?

„Hallo, ich komme fünf Minuten zu spät, bitte entschuldige“ sagte einer meiner „Schüler“ und ich wunderte mich. Er rief extra an, schrieb nicht nur ein sms oder kam einfach zu spät!

Er ist eine Ausnahme. Ich bin ganz anderes gewohnt…

Da gibt es Schüler, die 10 Minuten oder 15 Minuten verspätet sind und wenn ich frage, was passiert ist, ist der Verkehr schuld oder es gibt weder eine Erklärung, noch eine Entschuldigung. Oder sie kommen überhaupt nicht, haben verschlafen oder sonst irgendetwas gehabt – das erfahre ich aber erst beim nächsten Termin.

Werde ich alt? Bin ich altmodisch? Oder gar beides miteinander? Nein, wie Gespräche mit Bekannten und Freunden zeigen. Aber Benimm und Anstand scheinen nicht in zu sein.

Als ich heute bei meiner Französischlehrerin vor der Türe die Schuhsolen putzte, meinte sie dankbar, ich sei die Einzige, die das mache! Wofür liegt denn so ein Schuhabstreifer sonst vor oder neben der Wohnungstüre? Bei mir liegt auch so ein Ding: schwarz, gross, unübersehbar, der einzige auf meinem Stockwerk. Er wirkt einladend, finde ich zumindest. Trotzdem muss ich 9 von 10 Leuten, die zu mir kommen, bitten, die Schuhe zu putzen. Das ist so unendlich peinlich, schliesslich sind unter meinen Kunden Ärzte, Manager, Banker usw., … und doch ist es so furchtbar nötig. Die Strassen hier sind immer sandig, es liegt immer irgendein „grusiger“ Abfall herum, Wassertankwagen verschütten ihr wertvolles Gut und so bleibt oft eine klebrige Masse… an den Schuhen kleben.

Ich mag die Hand zur Begrüssung nicht reichen. Es ekelt mich vor der mangelnden Hygiene. Da gibt es Leute, die während des Unterrichts in der Nase bohren, ihre Pickel ausdrücken, in die Hände niessen und dabei kein Taschentuch benützen, obwohl eine Schachtel davon auf dem Tisch steht. Und dann soll ich Hände schütteln?

Und dann gibt es Leute, die ihre benützten Papiertücher, leeren Cola-Flaschen, abgebrochenen Bleistiftspitzen und anderes auf meinem Tisch liegen lassen – Abfall, den ich entsorgen darf. Bin ich die Müllentsorgung?

Andere wiederum verlangen nach einem zweiten, dritten oder vierten Glas Wasser, anstatt ihre eigene Flasche mitzubringen, obwohl sie vom Sport kommen und logischerweise grösseren Durst haben.  Bin ich ein Café?

Und es gibt auch noch jene, die ungefragt ihr Telefon oder ihr Notebook an mein Stromnetz hängen, um die Batterien aufzuladen. Bin ich denn ein Kraftwerk?

Auf die Füsse getreten fühle ich mich, wenn ich Emails von mir unbekannten Personen erhalte, in denen ich mit dem familiären „du“ angesprochen werde. Respektlos finde ich das. Es käme mir niemals in den Sinn, eine mir unbekannte Person mit „du“ anzuschreiben. Konsequenterweise beantworte ich solchen Schriftverkehr stur mit dem höflichen „Sie“ – dabei bleibt es dann meist auch. Ob sie’s gemerkt haben?

Je länger ich mich als „Lehrerin“ betätige und je mehr ich mit unterschiedlichen Menschen zu tun habe, umso mehr bin ich darüber erstaunt, wie wenig Wert auf Anstand, Höflichkeit und Benimm gelegt wird. Mit kulturellen Unterschieden hat das nichts zu tun, meine Erfahrungen gehen durch alle Schichten, alle Nationalitäten. Ich kann sehr wohl unterscheiden: Wenn meine Koreaner beim Wassertrinken schlürfen, habe ich Verständnis. Aber ein einfacher, junger Reiseleiter, für den seine Stunden bei mir viel Geld kosten, zeigt mehr Anstand, bringt mir sogar ein Geschenk mit, wenn er von seiner Heimatstadt zurückkommt. Hingegen liegt der Arzt und Klinikbesitzer halb quer auf dem Tisch, der hypernervöse Zahnarzt steht auf und geht in der Wohnung hin und her, weil er keine Stunde ruhig sitzen bleiben kann. Bücher und Papiere des Tauchlehrers sehen aus, als ob sie ein Jahr lang im Strassengraben gelegen hätten und er verlangt jedes Mal einen Stift, weil er nie seinen eigenen dabei hat.

Umso grösser wird „das Kränzlein“, das ich jener Person widme, die mir Anstand, Benimm und Höflichkeit beigebracht hat: meine Mutter. Sie hat die Basis gelegt, anderes habe ich auf Reisen und im Geschäftsleben erkannt.

Ganz ausgestorben ist „Kinderstube haben“ noch nicht: einige meiner Schüler bedanken sich genauso für den Unterricht, wie ich mich für ihre Aufmerksamkeit bedanke. Sie nehmen diskret ihren Abfall mit oder fragen mich, ob sie ihn in den Abfallkübel tun dürfen. Es sind kleine Aufmerksamkeiten, wenige Worte und einfache Gesten, die so viel Wohlwollen und Wohlbefinden im Umgang miteinander schaffen. Ich frage mich ehrlich, weshalb das nicht weiter verbreitet ist.

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