Seit Ausbruch der Revolution kursiert in Ägypten der Begriff
„Hesb el-kanaba“ – Sofa Partei – herum. Gemeint sind damit all jene Ägypter,
die, zuhause auf dem Sofa sitzend, die Ereignisse im Land im Fernsehen
verfolgen. Sie verhalten sich passiv, lassen sich nicht dazu bringen, ihren
bequemen Platz für die Gefahr und Unsicherheit der Strasse aufzugeben. Aus
ihrer Sicht waren jene dort draussen auf dem Tahrir Platz Spinner,
Aufgestachelte, Agenten, Nichtsnutze und Störenfriede.
Dass „jene dort draussen“ sich einsetzen und ihr Leben
riskieren für etwas, was irgendwann allen Ägyptern zugutekommen sollte, ist bei
der zahlenmässig grössten Partei des Landes – der Sofa Partei – nicht
angekommen. Trotzdem hörte man nach jedem erneuten Aufstand, dass sich „neue“
Gesichter dazu gesellten. Sie waren stolz, endlich dabei zu sein, und schienen
begriffen zu haben, worum es geht.
Vor zwei Wochen hat die Stadt Port Said mit einer neuen Art
von Aufstand begonnen: mit „zivilem Ungehorsam“. Port Said fordert
Gerechtigkeit für die vielen Toten am diesjährigen Jahrestag des hässlichen Massakers
im Fussballstadion vor einem Jahr und den Toten von damals. Ausgerechnet Port
Said. Es ist eine der Städte am Suezkanal, welcher einer der wichtigsten (und
finanziell letzten) Lebensadern Ägyptens darstellt und grosse Bedeutung für den
Welthandel hat. Sehr heikel. Noch ist der Betrieb am Suezkanal gewährleistet.
Sollte er ausfallen, dürfte eine Intervention seitens der Import- und
Exportmächte in West und Ost nicht ausbleiben. Trotzdem nehmen Arbeiter des
Kanalbetriebes (freiwillig oder unfreiwillig) am „zivilen Ungehorsam“ teil.
Natürlich sind ihre Forderungen nicht annähernd erfüllt worden.
Die Drahtzieher des Fussball Massakers bleiben unbekannt und ungestraft, die
Scharfschützen und Mörder von vergangenem Monat ebenfalls. Wut gesellt sich zur
Trauer der Angehörigen. Hinzu kommt die wirtschaftliche Flaute, denn seit dem
Fussball Massaker im Februar 2012 sind Produktion und Handel in der
Sonderwirtschaftszone eingebrochen. Bald hat jede Gesellschaftsschicht und jede
Altersgruppierung einen Grund, auf die Strasse zu gehen. Ladenbesitzer,
Kaffeehaus-Betreiber, Fussballfans, Fabrikarbeiter, Trauernde… alle folgen dem
Ruf nach „zivilem Ungehorsam“.
Da und dort haben weitere Städte im Delta zu „zivilem
Ungehorsam“ aufgerufen und ihre Bewohner sind dem Aufruf gefolgt. Alexandria
gehört nun dazu und seit gestern auch Stadtteile von Kairo. Während kurzer Zeit
wurde sogar der Zugang zur „Mugamma“, dem bedrohlichen, kafkaesken Gebäude
voller Ministerien und Behörden nahe dem Tahrir Platz, versperrt.
Bedeutet das, dass sich weitere Teile der „Sofa Partei“ motivieren
lassen, für ihre Rechte und gegen die schreiende Ungerechtigkeit und Willkür einzustehen? Es scheint so. Ich
glaube, dass es ein geeignetes Mittel ist, riesigen Druck auf das Regime
auszuüben. Es geht nicht darum, das Regime zu stürzen, sondern das Unrecht
bekannt zu machen. Wikipedia nennt ein „moralisches Recht auf Partizipation“
und weiter „… Durch den symbolischen Verstoss soll zur Beseitigung des Unrechts
Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung genommen werden…“. So, wie ich die
Ägypter verstehe und kennen gelernt habe, könnten sie sich dadurch sehr
angesprochen fühlen.
Einer meiner besten ägyptischen Freunde erzählte mir voller
Stolz, er sei an der Demonstration beim Präsidentenpalast (Anfang Dezember, kurz
nachdem Mursi das Verfassungsdekret veröffentlicht hatte) dabei gewesen und
fügte hinzu, „es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich demonstriert habe“.
Er dachte immer „demonstrieren, das tun die anderen, jene da draussen“, aber
ihn ginge das alles gar nichts an.
Das war kein Vorwurf, sondern eine Feststellung. Die
Mehrheit der Bürger ist wohl so. Jetzt, wo ich für mehrere Wochen in meiner
Heimat bin, sehe ich ein ähnliches Bild. Missstände (ja, die haben auch wir
hier und ihr dort bei euch ebenfalls!) sind seit Jahren bekannt und es wird
darüber diskutiert, schöngeredet, zerredet… Jene, die die Missstände offen
ansprechen oder gar kritisieren, sind Aussenseiter und werden nicht ernst
genommen. Jenen wenigen, die sogar versuchen, die Missstände zu beseitigen,
wird das Leben schwer gemacht. Die stille Mehrheit aber schaut zu oder
schlimmer: sie schaut weg. Es sind ja die anderen…
Die Sofa Partei ist wohl der Welt grösste Partei und ihr
werden die Mitglieder nicht wegsterben. Leider.
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