Sonntag, Februar 24, 2013

Sofa Partei - حزب الكنبة


Seit Ausbruch der Revolution kursiert in Ägypten der Begriff „Hesb el-kanaba“ – Sofa Partei – herum. Gemeint sind damit all jene Ägypter, die, zuhause auf dem Sofa sitzend, die Ereignisse im Land im Fernsehen verfolgen. Sie verhalten sich passiv, lassen sich nicht dazu bringen, ihren bequemen Platz für die Gefahr und Unsicherheit der Strasse aufzugeben. Aus ihrer Sicht waren jene dort draussen auf dem Tahrir Platz Spinner, Aufgestachelte, Agenten, Nichtsnutze und Störenfriede.

Dass „jene dort draussen“ sich einsetzen und ihr Leben riskieren für etwas, was irgendwann allen Ägyptern zugutekommen sollte, ist bei der zahlenmässig grössten Partei des Landes – der Sofa Partei – nicht angekommen. Trotzdem hörte man nach jedem erneuten Aufstand, dass sich „neue“ Gesichter dazu gesellten. Sie waren stolz, endlich dabei zu sein, und schienen begriffen zu haben, worum es geht.

Vor zwei Wochen hat die Stadt Port Said mit einer neuen Art von Aufstand begonnen: mit „zivilem Ungehorsam“. Port Said fordert Gerechtigkeit für die vielen Toten am diesjährigen Jahrestag des hässlichen Massakers im Fussballstadion vor einem Jahr und den Toten von damals. Ausgerechnet Port Said. Es ist eine der Städte am Suezkanal, welcher einer der wichtigsten (und finanziell letzten) Lebensadern Ägyptens darstellt und grosse Bedeutung für den Welthandel hat. Sehr heikel. Noch ist der Betrieb am Suezkanal gewährleistet. Sollte er ausfallen, dürfte eine Intervention seitens der Import- und Exportmächte in West und Ost nicht ausbleiben. Trotzdem nehmen Arbeiter des Kanalbetriebes (freiwillig oder unfreiwillig) am „zivilen Ungehorsam“ teil.

Natürlich sind ihre Forderungen nicht annähernd erfüllt worden. Die Drahtzieher des Fussball Massakers bleiben unbekannt und ungestraft, die Scharfschützen und Mörder von vergangenem Monat ebenfalls. Wut gesellt sich zur Trauer der Angehörigen. Hinzu kommt die wirtschaftliche Flaute, denn seit dem Fussball Massaker im Februar 2012 sind Produktion und Handel in der Sonderwirtschaftszone eingebrochen. Bald hat jede Gesellschaftsschicht und jede Altersgruppierung einen Grund, auf die Strasse zu gehen. Ladenbesitzer, Kaffeehaus-Betreiber, Fussballfans, Fabrikarbeiter, Trauernde… alle folgen dem Ruf nach „zivilem Ungehorsam“.

Da und dort haben weitere Städte im Delta zu „zivilem Ungehorsam“ aufgerufen und ihre Bewohner sind dem Aufruf gefolgt. Alexandria gehört nun dazu und seit gestern auch Stadtteile von Kairo. Während kurzer Zeit wurde sogar der Zugang zur „Mugamma“, dem bedrohlichen, kafkaesken Gebäude voller Ministerien und Behörden nahe dem Tahrir Platz, versperrt.

Bedeutet das, dass sich weitere Teile der „Sofa Partei“ motivieren lassen, für ihre Rechte und gegen die schreiende Ungerechtigkeit und  Willkür einzustehen? Es scheint so. Ich glaube, dass es ein geeignetes Mittel ist, riesigen Druck auf das Regime auszuüben. Es geht nicht darum, das Regime zu stürzen, sondern das Unrecht bekannt zu machen. Wikipedia nennt ein „moralisches Recht auf Partizipation“ und weiter „… Durch den symbolischen Verstoss soll zur Beseitigung des Unrechts Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung genommen werden…“. So, wie ich die Ägypter verstehe und kennen gelernt habe, könnten sie sich dadurch sehr angesprochen fühlen.

Einer meiner besten ägyptischen Freunde erzählte mir voller Stolz, er sei an der Demonstration beim Präsidentenpalast (Anfang Dezember, kurz nachdem Mursi das Verfassungsdekret veröffentlicht hatte) dabei gewesen und fügte hinzu, „es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich demonstriert habe“. Er dachte immer „demonstrieren, das tun die anderen, jene da draussen“, aber ihn ginge das alles gar nichts an.

Sofa Partei eben, dachte ich und sagte es halblaut.

Das war kein Vorwurf, sondern eine Feststellung. Die Mehrheit der Bürger ist wohl so. Jetzt, wo ich für mehrere Wochen in meiner Heimat bin, sehe ich ein ähnliches Bild. Missstände (ja, die haben auch wir hier und ihr dort bei euch ebenfalls!) sind seit Jahren bekannt und es wird darüber diskutiert, schöngeredet, zerredet… Jene, die die Missstände offen ansprechen oder gar kritisieren, sind Aussenseiter und werden nicht ernst genommen. Jenen wenigen, die sogar versuchen, die Missstände zu beseitigen, wird das Leben schwer gemacht. Die stille Mehrheit aber schaut zu oder schlimmer: sie schaut weg. Es sind ja die anderen…

Die Sofa Partei ist wohl der Welt grösste Partei und ihr werden die Mitglieder nicht wegsterben. Leider.

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