Die El-Sissy-Mania wächst unaufhaltsam. Der Armee-Chef wird
zum Helden hochgejubelt und auf gleiche Stufe wie die ehemaligen Präsidenten
Gamal Abd El Nasser und Anwar El Sadat gestellt. Sein Bild ziert Geschäfte,
Autos, Busse und Häuser. Kaum einer fragt sich, was er denn bisher geleistet
hat (ok, er hat Ägypten vor einem Muslimbruder-Kaliphat bewahrt, das ist viel
wert), kaum einer nimmt wahr, dass Menschenrechte weiterhin mit klobigen
Stiefeln hart niedergetreten werden.
Aus der Armee und aus dem Volk erklingen unüberhörbar
Stimmen, El Sissy solle Präsident werden. Bisher hat er diese Forderungen
abgelehnt, allerdings nicht sehr überzeugend. Der Armeechef könnte diese
Forderungen und dieses Anhimmeln mit einer klaren Aussage beenden, tut das aber
nicht. Der Mann ist sehr klug.
So klug, dass ich mich inzwischen frage, ob das, was im
Januar 2011 geschah, überhaupt eine Revolution war. Es war wohl eher ein Aufstand,
der vom Militär dazu genützt wurde a) Kronerben Gamal Mubarak samt seinem seit
einer Generation am Thron klebenden Vater loszuwerden und b) die Muslimbrüder ans
Messer zu liefern. Das macht Sinn, denn damit hat das Militär seine Machtposition
gestärkt.
Das wäre an und für sich ja nicht schlecht, wenn es dem Volk
dadurch besser ginge. Ägypten gleicht jedoch immer mehr einem rechtlosen Staat,
in dem sich weder die staatlichen Institutionen, noch der Bürger an das Recht
halten. Das fängt im Strassenverkehr an und geht weiter zum Tragen von Waffen
und deren Einsatz bei kleinsten Meinungsverschiedenheiten bis hin zu Überfällen
und Angriffen auf Polizeistationen. Was tut der kleine Mann? Wenn er kann, bewaffnet
er sich auch. Er tut, was ihm passt.
Gleichzeitig schlagen Innenministerium und Polizei knallhart zu.
Letztere ist gestärkt, neu ausgerüstet und in grosser Zahl aus dem Nichts
plötzlich wieder überall präsent. Ich beschränke mich mal nur auf Hurghada:
- Plötzlich stehen überall
wieder Polizeihäuschen, blau angemalt und grösser als die gemauerten, weiss
getünchten Hütten von früher; die Polizisten sitzen da und tun nichts, wie
früher. Weder bringen sie Ordnung in den Wildwest-ähnlichen Strassenverkehr,
noch beschützen sie Touristen und Spaziergänger vor Anmache und Belästigungen
durch Verkäufer.
- Kürzlich wurden mitten in
der Nacht Häuser und Wohnungen durchsucht; Menschen wurden aus dem Schlaf
gerissen, halb angekleidet auf die Strasse gezerrt und zur Polizeistation
gebracht. Die Polizei nahm alle fest, die keinen „Heiratsvertrag“ (gemischte
Paare, bei denen einer Ägypter ist), keine Arbeitserlaubnis (Ägypter) und kein
gültiges Visum (vor allem Russen) vorweisen konnten. Festgenommen wurden auch
Drogenhändler und Prostituierte.
- Einer meiner Studenten
schildert mir eine haarsträubende Geschichte, wonach eine Frau – sie rief „Er
ist mein Mann! Er ist mein Mann!“ - nur
in ein Bettlaken gehüllt auf die Strasse gezerrt wurde; der Besitzer einer
Whisky-Flasche musste ebenfalls mit zur Polizei.
Auch wenn die betroffenen Menschen gegen das gültige Gesetz
verstossen haben (wer schert sich denn in dem rechtlosen Land darum?), haben
sie es nicht verdient, so behandelt zu werden. Wie es in den Gefängnissen
aussieht, kann man im Internet nachlesen. In den vergangenen Wochen sind
mehrere Ausländer in ägyptischen Gefängnissen gestorben, haben sich angeblich
das Leben genommen oder wurden nach mehrwöchigem Gefängnisaufenthalt frei
gelassen und haben darüber berichtet.
Einer meiner Freunde ist momentan in Alexandria. Er sagt,
die Menschen hätten grosse Angst. Angst vor noch mehr Anschlägen der Islamisten,
nun wieder Angst vor der Polizei und Angst vor der Zukunft. Seit drei Jahren
hoffen die Menschen vergeblich auf Gerechtigkeit, Brot für alle und ein Leben
in Würde und Anstand.
Die dritte (oder ist es die vierte?) Übergangsregierung seit
25. Januar 2011 arbeitet an einem Gesetz, welches das Demonstrationsrecht
massiv einschränken soll. Sollte das Gesetz wirklich erlassen werden, gleicht
das einem Pulverfass. Die Menschen haben mehr als die Nase voll und wenn sie
ihrem Frust Luft verschaffen wollen, riskieren sie ihr Leben. Das ist das
einzig Nennenswerte, das die jetzige Übergangsregierung zustande gebracht hat.
Offenbar, ist es das grösste Problem Ägyptens!
Es gibt keine wirkliche Regierung, es gibt keine wirkliche Opposition:
Es gibt nur noch El Sissy. Irgendwie kann ich die Ägypter ja verstehen: Sie
klammern sich an einen starken Mann, an jede Hoffnung. Irgendwie verstehe ich
sie aber auch nicht: Wie können sie vergessen, was die Armee ihnen alles angetan
hat? Der nächste Aufstand ist vorprogrammiert – es sei denn, El Sissy nimmt
nicht nur ein paar kosmetische Korrekturen vor, sondern bewirkt echte
Verbesserungen für alle Ägypter.
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