Sonntag, Januar 20, 2013

Tödliche Zugskollision – eine von vielen

„Hast du schon das Neueste gehört?“ fragt mich mein Schüler mit ernstem Blick. Nein, antwortete ich, ich hatte den ganzen Tag keine Zeit, um Nachrichten zu lesen. „Es hat schon wieder einen Zugunfall gegeben. Kinder in einem Schulbus, über 50 Tote!“


Dieser Unfall geschah am 17. November, wenige Tage bevor Mursi den Waffenstillstand zwischen der Hamas und Israel eingefädelt und darauf sein Verfassungsdekret bekannt gegeben hat. Der Schulbus fuhr über einen ungesicherten Bahnübergang in einen herannahenden Zug. Die Schranke war oben, der Schrankenwärter nicht am Platz. Am vergangenen Montag geschah schon wieder ein tödlicher Zugunfall, diesmal mit Rekruten aus Oberägypten, und es wird nicht der letzte gewesen sein.

Der fürchterliche Unfall vom November in Assiut widerspiegelt in vielen Bereichen Ägyptens Zustand, weshalb ich hier davon schreiben möchte.

Die sechs- bis achtjährigen Kinder waren in einem überfüllten Bus unterwegs zu einer Islam-Schule, wohin sie nie gelangten. Es gibt Familien, die bei diesem Unglück all ihre Kinder verloren haben; im Städtchen Mandara gibt es keine Familie, die nicht betroffen war, denn eine typische ägyptische Familie ist gross und besteht aus vielen Mitgliedern…

Das Häuschen des Schrankenwärters ist winzig und unbequem; dort erhält er die Anrufe über die herannahenden Züge, damit er die Schranken herunter lassen kann. Oft verlässt er seinen engen, stickigen  Arbeitsplatz, um bei Kollegen nebenan zu rauchen und zu plaudern. Drüben hört er weder die wichtigen Anrufe noch hat er Sicht auf die Geleise; folglich bleiben die Schranken trotz der heranfahrenden Züge offen. Immer wieder sind hier schlimme Unfälle geschehen. Die Bewohner des Städtchens haben wiederholt protestiert und von den Bahnbehörden und dem Transportminister verlangt, dass dieser gefährliche Zustand beseitigt würde. Vergeblich.

Am 17. November suchten sie in den Trümmern des zermalmten Busses nach Überresten ihrer Kinder: ein Fetzen Stoff, ein Schulheft, ein Schuh, eine Zeichnung, eine Schultasche. Die Ambulanz gelangte spärlich ausgerüstet zum Unfallort: in gewöhnliche Säcke und Abfallsäcke, aus denen der Müll gekippt wurde, wurden die Überreste der Kinder eingesammelt. Jene, die noch lebten, wurden in das lokale Krankenhaus von Manfalout transportiert, wo nicht mal die notwendigste Ausrüstung verfügbar war. Von dort wurden sie ins Universitätsspital von Assiut gebracht. Aber auch dort war das Krankenhaus-Personal völlig überfordert und konnte den Kindern mangels Verbandsmaterial und Medikamenten kaum Erste Hilfe geben. Ein junger Arzt hat mir einmal geschildert, wie diese öffentlichen Krankenhäuser geführt werden: Junge Ärzte frisch von der Uni müssen dort für 300 Pfund ihren Dienst tun, ohne von erfahrenen Ärzten beaufsichtigt und angeleitet zu werden. Jene haben wichtigeres zu tun: sie arbeiten in Privatkliniken, denn dort verdienen sie besser. Doch davon ein andermal.

Die Polizei kam erst Stunden später zum Unfallort. Wie immer wurde versprochen, dass der Unfallhergang untersucht und der Fehlbare bestraft werde. Wie immer haben Minister versprochen, den haltlosen Zustand zu beseitigen. Wie immer hat Mursi (tut mir leid, ich kann ihn einfach nicht „Präsident“ nennen) versprochen, die Familien zu entschädigen. Nach dem weiteren Unfall vom vergangenen Montag wurde sogar versprochen, 900 Bahnübergänge in ganz Ägypten sofort zu sanieren!

Drei Tage später geschah am gleichen Bahnübergang in Mandara fast wieder eine Katastrophe, als ein Zug durch den offenen Bahnübergang fuhr… Und ich bin sicher, dass der Zustand unverändert andauert.

Schuldige wurden gefunden. Vernachlässigung der Bahnbehörden, Geleise seit über 10 Jahren nicht unterhalten bzw. erneuert, 15 Bahnarbeiter wurden vor Gericht gezerrt. Ob sie die wahren Schuldigen sind?

Zufälligerweise ist heute in „Egypt Independent“ zu lesen, dass nur ein Viertel des zur Verfügung gestellten Budgets von USD 270 Mio. in 2009 und von USD 330 Mio. in 2011 für den Unterhalt der Bahnen eingesetzt worden sind. Der grössere Teil ist gemäss The Egyptian Center for Economic and SocialRights von Mitgliedern der Regierung verprasst worden.

330‘000‘000 US-Dollar ist eine schöne Stange Geld. Den Familien, die bei dem grässlichen Unfall ein Kind verloren haben, wurden zuerst 1‘000 Pfund (ca. 150 USD), später bis zu 50‘000 Pfund (ca. 7‘700 USD) Entschädigung versprochen. Ob sie je etwas davon sehen werden, wage ich zu bezweifeln. Ihre Kinder können sie davon nicht wieder lebendig machen und dem verlotterten Staat den Rücken kehren auch nicht.

Vernachlässigung, Unterlassung, Bereicherung = Korruption. Das ist Ägypten in jedem Bereich: Gesundheit, Infrastruktur, Bildung, Umwelt usw. Ägypten ist ein reiches Land. Nur haben nur ganz Wenige etwas davon.

Und der Westen schickt weiterhin Geld…

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