Sonntag, Januar 13, 2013

Warum wehr ihr euch nicht?

Warum erhebt ihr euch nicht und kämpft für eure Rechte? Diese Fragen stellte ich immer und immer wieder seit meinem zweiten Besuch in Ägypten.


Zwischen meinem ersten und dem zweiten Aufenthalt in Ägypten liegen Welten. Welten der Erkenntnis, sozusagen. Beim ersten Mal kam ich entgegen meiner üblichen Gewohnheit unvorbereitet und unwissend in ein mir völlig fremdes Land. Doch was ich damals innerhalb und ausserhalb der Hotelanlage in Hurghada beobachtete, fachte meine Wissensbegierde an und ich suchte Antworten auf die vielen „Warums“. Als Saddam Hussein kurz nach Weihnachten 2006 hingerichtet wurde, wollte ich unbedingt wissen, was die ägyptischen Zeitungen darüber berichteten und wie das Volk darüber dachte. Ich kam mit einem Juwelier ins Gespräch und erhielt als Antwort „Ägypten hat andere Probleme, als sich um Saddam Hussein zu kümmern.“ Wie um diese Worte zu betonen, fuchtelte er mit seinem französischen Pass herum. Ich vergesse diesen Moment nie wieder, denn peinlich berührt wurde mir klar, dass ich keine Ahnung von Ägypten hatte.

Kaum zuhause angekommen, deckte ich mich im Internet und in der Bibliothek mit Informationen über Land und Wirtschaft ein. Je mehr ich las, je mehr wollte ich wissen und umso mehr Fragen ballten sich in mir zusammen.

Vier Monate später kehrte ich nach Ägypten zurück, reiste herum, fragte und beobachtete. Jeden, der mir über den Weg lief und mit dem ich mich verständigen konnte, fragte ich, liess ihn reden, hörte geduldig zu. Ich erfuhr Erstaunliches, Erschütterndes, Unglaubliches und Unverständliches. Es ging um gescheiterte Beziehungen, um Geldsorgen, um Arbeitsplatzprobleme, um Familienbande, um bestehende und zerplatzte Träume. Ich ahnte, welch völlig andere Kultur sich hinter meinen Gesprächspartnern verbarg. Natürlich wollte ich auch  über Politik wissen, doch viele meiner Gesprächspartner wichen aus bzw. flüsterten oder blickten verstohlen aus den Augenwinkeln nach rechts und links bevor sie mir eine Antwort gaben.

„Why don’t you get up, stand up and fight for your rights?“ [Jimmy Cliff] – Warum erhebt ihr euch nicht, wehrt euch und kämpft für eure Rechte?

Wie kann man unter so miserablen Bedingungen leben? Wie kann man die täglichen Schikanen der Polizei an jeder Strassenecke, an den zahlreichen Checkpoints, die Bevormundung und die willkürlichen Festnahmen hinnehmen? Wie kann man mit engmaschiger Zensur und einseitiger Berichterstattung der Staatsmedien leben? Wie kann man mit einer alles durchdringenden Korruption durch den Alltag gehen? Wie kann man als junger Mensch ein Leben planen, das geradeaus in eine Sackgasse führt und keinerlei Visionen erlaubt? Wie kann man als älterer Mensch diese Sackgasse erdulden und dabei erleben, wie die Lebensumstände seit den 50er Jahren Jahr für Jahr schlechter werden?

Eine Antwort war: „Weil Mubarak alle Kräfte in seinen Händen hat: Militär, Polizei, Justiz und Parlament“. Eine andere war: „Wir haben Opposition, wir haben ein paar Muslimbrüder im Parlament“. Oder: „Es gibt im Ausland keine Opposition.“ Aber auch: „Wir haben Internet, wir wissen, wie es draussen ist.“

Das befriedigte mich nicht. Ich bin in einem liberalen Land aufgewachsen und mit liberalem Gedankengut erzogen und ausgebildet worden. Mein Hirn konnte und kann sich niemals mit dieser Schicksalsergebenheit und Passivität abfinden.

Also suchte ich Gründe und wurde bald fündig:

Ägypter sind bequem.
Damit meine ich: ohne Initiative, ohne Ideen, ohne Kampfgeist, passiv, duldsam. Sitzen sie nicht lieber in den Kaffeehäusern, rauchen Wasserpfeife, schauen Fussballspiele oder versuchen, Touristen übers Ohr zu hauen? Ganz daneben lag ich damit nicht, doch das war zu oberflächlich.
Im Laufe meiner weiteren Aufenthalte in diesem weiten, vielfältigen und unbegreiflichen Land deckte ich Schicht um Schicht von der Oberflächlichkeit ab und begann, besser zu verstehen. Der scheinbaren oder wahren Passivität liegen viele Erklärungen zu Grunde.

Das politische System
Man stelle sich das vor: der einjährige Junge, der mit runden Beinchen seine ersten ungeschickten Schritte ausprobiert, sieht Mubarak. Der gleiche Junge, der später täglich mit seinen Kameraden auf einem trockenen Sandplatz Fussball spielt und womöglich von einer Fussballkarriere bei Ahly träumt, sieht den „Staatsvater“ Mubarak im Fernsehen. Der Teenager, der den Mädchen verstohlene Blicke nachwirft, kennt nur Mubarak als „Staatsvater“, der täglich im TV über seine Wohltaten berichtet. Der junge Mann, der seine junge Braut ehelicht, kennt nichts anderes als Mubarak, die Staatspartei NDP, einen strengen Polizeistaat und keine Freiheit. Der junge Vater, der täglich darum kämpft, seine Familie ernähren zu können, hört und sieht nur Mubarak…

An die 50 % der ägyptischen Bevölkerung kennen kein anderes Staatssystem als Mubaraks Diktatur. Wie soll so ein Mensch, der sein ganzes Leben lang – nämlich 30 oder 40 Jahre – nie etwas anderes erlebt hat, sich etwas anderes vorstellen können? Ich meine damit nicht, dass Ägypter zu dumm dazu wären, bitte nicht falsch verstehen. Nein! Ich will damit sagen, dass die Mehrheit der heute 30 bis 40 Jährigen nie etwas anderes gekannt haben und es sich demnach auch nicht vorstellen können. Jene Freiheit, die wir in Westeuropa so selbstverständlich leben, gibt es dort nicht und ist vielen Menschen fremd.

Bildung
Das ägyptische Bildungssystem bildet keine selbständig denkenden Menschen heran. Die Schüler müssen auswendig lernen, um eine gewisse Anzahl Punkte zu erreichen. Je nach erreichter Punktezahl stehen unterschiedliche Universitäten oder Ausbildungswege offen. Wer nicht die Höchstzahl erreicht, wird statt Arzt oder Ingenieur einfach Jurist, Lehrer oder sonst etwas. Die Kinder lernen nicht wie man lernt und auch nicht, wie man seinen Verstand einsetzt, um z.B. Alternativen zu finden, Gegebenes zu hinterfragen, zu kritisieren oder zu analysieren. Die Lehrer arbeiten für einen Hungerlohn und gehen deshalb noch einer weiteren Beschäftigung nach, um finanziell über die Runden zu kommen. Nur, wer sich Privatstunden oder eine Privatschule leisten kann, kommt weiter. Die anderen lernen auswendig, wiederholen und befolgen, was ihnen gesagt wird. Da gibt es keinen Raum für Entwicklung, Kreativität oder gar Aufbegehren.
Wie soll in so einem System Eigeninitiative entstehen?

Kultur, Traditionen und Religion
Diese drei Werte kann ich nicht trennen, sie sind für mich ineinander verworren, voneinander abhängig und eng verknüpft. Die Religion verlangt Folgsamkeit genauso wie die Familie, die den Vater (und später den erstgeborenen Sohn) als Oberhaupt anerkennt und respektiert. Für die Familie wird alles getan; gegen den Willen der Familie (bzw. das Oberhaupt)  läuft nichts, ausser man riskiert den endgültigen Bruch mit der Familie. In einem grösseren Rahmen ist es der Stamm, der je nach Gebiet das Sagen hat.

Ferner sind Ägypter friedliebend und voller Lebensfreude. Aufbegehren ist etwas, was die anderen machen.

Die Folgsamkeit gegenüber der Obrigkeit (Familie, Lehrer, Arbeitgeber, Polizei, Präsident) ist stark verwurzelt und jedes Mal, wenn ich als stille Beobachterin Zeuge davon werde, erschrecke ich innerlich. Doch so ist Ägypten.

Wirklich be-„greifen“ kann ich es nicht, auch wenn ich besser verstehe. Sie haben einfach eine andere „Festplatte“ im Kopf, die völlig anders zusammengesetzt, programmiert und mit Daten versehen wurde, denke ich manchmal.

Nichtsdestotrotz gab es diesen Aufstand, diese Revolution, die noch andauert und die zähflüssig wie gekühlter Honig ist, die erst halbherzig daherkommt. Noch immer frage ich mein Gegenüber „Warum wehrt ihr euch nicht?“ und häufig lautet die Antwort „Was können wir denn tun?“

Dieser hilflose Satz sticht mir gleichermassen in den Verstand wie ins Herz. Er macht mir bewusst, dass noch viel Zeit vergehen wird, bis sich wirklich etwas im Land am Nil ändern wird. Inzwischen emigrieren diejenigen, die können, und die anderen wursteln sich irgendwie durch, im Vertrauen darauf, dass Allah sie dabei unterstützt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Danke für Ihren Kommentar. Ich freue mich über jede aktive Teilnahme an meinem Blog. Meinungsfreiheit gilt auch hier. Ich behalte mir jedoch vor, freche und beleidigende Kommentare zu löschen.