Mittwoch, Mai 04, 2011

NATO und Libyen

Stellen wir uns mal folgendes vor:

Eines unserer Nachbarländer, sagen wir die Schweiz, ist in einen Bürgerkrieg geraten, weil – rein imaginär – die Westschweizer die Nase voll vom ewigen Nein der Deutschschweizer in Volksabstimmungen haben. Über den „Röstigraben“ hinweg bekriegen sich Deutsch- und Westschweizer. Die Tessiner halten sich raus und nehmen Flüchtlinge auf, schicken Medikamente und Lebensmittel in die bekriegten Landesteile.

Der Bürgerkrieg eskaliert hässlich und schweres Geschütz wird aufgefahren. Das Ausland diskutiert über eine „No-Fly-Zone“ über der Schweiz. Sie wird eingerichtet. Doch gleichzeitig kommt die Arabische Liga und fängt an, auf einen der beiden kriegerischen Landesteile Bomben abzuwerfen, Geheimdienste zu infiltrieren, die Kriegsparteien mit Waffen und Logistik zu unterstützen, usw. usw.

Wir in den Nachbarländern sitzen vor den Fernsehern und sehen mit Entsetzen zu, was die Fremden da anrichten. Verwandte und Freunde rufen uns angsterfüllt und verzweifelt an, wir zittern um sie. Wir erfahren, wie Mütter auf dem Weg zum Einkauf in einem Kugelhagel umkommen, wie Kindergärten und Schulen explodieren. Dann verlieren wir unsere Arbeitsstellen, wir bekommen Angst. Angst um unsere Sicherheit, unsere Zukunft. Und Wut. Was geht es die Arabische Liga an, wenn unsere Nachbarn streiten und einen Bürgerkrieg anzetteln? Wir haben sie nicht gerufen!

Ein Phantasieszenario, ja, natürlich. Aber es erlaubt besser nachzuvollziehen, wie ein Araber jetzt denken und fühlen muss. Mit welchem Recht bombardiert die NATO Libyen? Es war nach einer Flugverbotszone gerufen worden und diese wurde eingerichtet. Einen Eingriff in den Bürgerkrieg hat niemand gefordert.

Doch genau das geschieht nun. Millionen von Gastarbeitern von armen Ländern haben durch den Krieg in Libyen ihre Arbeit und damit ihr Einkommen verloren. Mit diesem Einkommen haben sie weitere Millionen von Menschen – ihre Familien - in ihrer Heimat am Leben erhalten. Das war, bevor die NATO eingriff. Inzwischen kommen aber unbeteiligte Zivilisten um. Und das Schlimme an allem ist: es ist – einmal mehr – der Westen, der sich in eine arabische Angelegenheit einmischt. Der Westen, der sich seiner Demokratie rühmt.

Mit welchem Recht mischt sich die NATO in Libyen ein? Mit welchem Recht schicken Frankreich, Grossbritannien und die USA Kampfflugzeuge und greifen Gaddafi-Getreue an?

Hat der Westen aus Irak nichts gelernt?

Ich kenne die Antworten nicht. Ich erlebe einfach, wie Araber wieder Gründe haben, den Westen zu hassen. Allein die Geschehnisse in den einzelnen arabischen Ländern sind schwer für die hiesige Bevölkerung zu tragen. Ägyptens Wirtschaft ist am Boden. Religiöse Fanatiker kämpfen gegen Säkularisten. Der Oberste Armeerat handelt zu langsam, ist nicht willens oder fähig, klare Ziele zu formulieren und umzusetzen. Es gibt keine klare politische Linie. Das Land droht auseinander zu brechen. Das ist Ägypten heute. Da sind aber auch noch Tunesien, Marokko, Syrien, Bahrein, die mit ähnlichem zu kämpfen haben. Und dann kommt der „arrogante“ Westen und wirft Bomben auf ein Nachbarland, ein Bruderland, egal wie gut oder schlecht dessen Regierung war.

Wir Bürger in den Nachbarländern der Schweiz würden uns auch mit den Schweizern solidarisieren und Wut und womöglich Hass auf die „arroganten Araber“ entwickeln. Verständlich, oder?

„Um besser zu sehen, muss man manchmal aufstehen oder seine Position verändern“, hat mal ein Coach zu mir gesagt. Ich sehe den Westen aus einer anderen Optik seit ich hier in Ägypten lebe. Und was ich sehe, beschämt mich manchmal.
 

2 Kommentare:

  1. Nach meiner Ansicht ist diese Darstellung etwas zu einfach. Als Motiv des Natoeinsatzes ist vielleicht nicht nur die repressive Innenpolitik und die fragliche Legitimation der Führung seines Klans, sondern auch sein Verhalten gegenüber anderen Staaten und Terroristen. Bedingung für den NATO-Einsatz war jedoch, dass die Arabische Liga einverstanden ist und sich sogar daran beteiligt. Gaddafi hatte einfach schon früher keinen Kredit mehr.

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  2. Natürlich ist die Darstellung vereinfacht. Mir geht es darum aufzuzeigen, wie die Araber teilweise den NATO-Einsatz empfinden. Die Arabische Liga war mit einer Flugverbotszone einverstanden - nicht mit Angriffen; der Entscheid der Arabischen Liga wird in dieser Region hinterfragt. Gaddafis Verhalten gegenüber anderen Staaten und als Terrorist einerseits und die brutale Niederschlagung der Rebellen im eigenen Land sollte auseinander gehalten werden.

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