Sonntag, Dezember 02, 2012

Mitten aus einer Demonstration

Die Opposition hat vergangenen Freitag erneut zu Demonstrationen aufgerufen und die Menschen folgten dem Aufruf in ganz Ägypten.


Ich war wieder in Hurghada dabei. Die Aktivisten haben aufgerüstet: ein kleiner roter Lastwagen führte den Protestzug an. Auf ihm waren Lautsprecher befestigt und zwei oder drei Männer wechselten sich darin ab, durchs Megaphon die Parolen durchzugeben. Flaggen, Spruchbänder, Tafeln und Blätter mit den Slogans wurden vor dem Abmarsch verteilt.




Ein bisschen argwöhnisch betrachten mich die Wartenden. Als meine Arabischlehrerin S. kommt, ist das vergessen. M., einer meiner Schüler ist da und eine weitere Ausländerin gesellt sich dazu. Ich bin nicht mehr die Einzige! I., eine weitere Aktivistin, erinnert sich an mich und schüttelt mir die Hand.

Die Gruppe setzt sich in Bewegung. Vorne der Lastwagen, dahinter Männer mit einem grossen Spruchband und der ägyptischen Flagge, dann wir Frauen, dahinter die Gruppe der Männer.

Frauen jeden Alters marschieren lauthals rufend neben, vor und hinter mir her. Sie halten Spruchbänder oder Flaggen hoch, recken im Rhythmus der Sprüche ihre Fäuste in die Luft. Mir wird auf die Füsse getreten, ich werde von hinten und von rechts und links gestupst. Eine Ägypterin hakt sich bei mir unter und sagt, sie wisse, dass ich eine Freundin von S. bin. Das gibt mir Legitimation, ich bin anerkannt.






Es ist heiss, viel zu heiss für diese Jahreszeit und es ist absolut windstill. Die meisten sind der Jahreszeit – und nicht den Temperaturen entsprechend – angezogen, also viel zu warm. Entsprechende Gerüche hängen in der Luft und vermischen sich mit dem Abgas des kleinen Lastwagens.

Ich trete anderen auf die Füsse, lächle, entschuldige mich, versuche eine Lücke zu finden, um das zu vermeiden. Dafür weht mir jetzt eine Fahne um den Kopf und versperrt mir den Blick. Zwischendurch stockt der Zug und ich drehe mich um, um Fotos zu machen. Da entdecke ich einen anderen Freund und winke ihm.

Die Männer bilden wieder eine Menschenkette um den Protestzug. Ich gehe am Rand, um etwas mehr Luft und Beinfreiheit zu haben. Doch I. kommt und schreit „goa“ – hinein. Hinein, in die Gruppenmitte. Ich blicke die Fassaden hinauf: auf den Balkonen hat es diesmal viel mehr Menschen, die applaudieren und in die Sprüche gegen Mursi, seinen Verfassungsbeschluss, gegen die Verfassung und auch gegen die Muslimbrüder einstimmen. „Dustour diktatoria“ – Diktatorenverfassung brüllt eine Kameradin neben mir in mein Ohr.


Ich verlasse die Gruppe kurz, um Fotoaufnahmen vom Strassenrand zu machen. Die Gruppe ist etwas grösser als am Dienstag. Einer auf dem Trottoir murmelt, was denn die Ausländerin da zu suchen habe. Das trifft mich etwas, doch die Bemerkung ist eigentlich typisch ägyptisch. Ich geh zurück zur Gruppe. Die Männer halten nun ein Seil um die Gruppe.

Gedankenversunken marschiere ich Richtung Sekalla mit. Ich tue das, um den Ägyptern meine Unterstützung zu zeigen und nicht, um mich einzumischen. Ich tue das, weil ich weiss, worum es hier geht und wie schwierig der Weg für Ägypten noch sein wird. Letzte Woche schrieb ich „Fortsetzung vom 25. Januar 2011“, noch bevor ich wusste, wie Ägypten auf Mursis Dekrete reagieren würde. Inzwischen ist im Schnellverfahren über die hauptsächlich durch Islamisten zusammen gezimmerte Verfassung abgestimmt und ein Referendum angesetzt worden. Die Richter sind in den Ausstand getreten, die Proteste gehen weiter, die UNO und die EU machen Druck. Intellektuelle, Politiker, ehem. Präsidentschaftskandidaten und Aktivisten kämpfen vereint gegen eine drohende Diktatur, welche den Menschen noch mehr Einschränkungen aufzwingen würde.



Meine Füsse schmerzen von den vielen Blasen vom letzten Mal, meine Beine vom stundenlangen Marsch. Ich vergleiche mit Westeuropa: Demokratie, Rechtsstaat, Rechtssicherheit, Gewaltentrennung, Einhaltung der Menschenrechte… wir haben alles und es ist selbstverständlich. Wir bedienen uns ihrer, ohne uns darüber bewusst zu sein, was das bedeutet. Auch sie mussten einst erkämpft und errungen werden. Und noch heute muss sie sorgfältig beobachtet und bewahrt werden.

Und hier? In dem Drittweltland, das vor allem als Destination für Tauch- und Badeferien bekannt ist sowie an seinen einzigartigen Schatz an historischen Stätten? Wo sich Touristen in wunderschönen Hotelanlagen vom Alltag entspannen? Nichts gibt es. Absolut nichts. Die Menschen wissen aber, was sie wollen und sie sind bereit, dafür zu kämpfen. Deshalb gehen sie auf die Strasse. Deshalb füllt sich der berühmte Tahrir-Platz mit Hundertausenden von Menschen erneut. Sie werden nicht aufgeben, bis sie ihr Ziel erreicht haben.

Eine Stimme neben mir ruft meinen Namen. Es ist mein Freund B., der nun zu meiner Rechten Teil der Menschenkette ist. Ich bin froh, ihn zu sehen, und wir diskutieren eine Weile. Inzwischen sind wir in Sekalla und beidseitig des Strassenrandes stehen die Menschen dicht beieinander. Während der ganzen Strecke war die Strasse von Zuschauern gesäumt – das war am Dienstag noch nicht so.
Der Protestzug wendet beim Arousa-Platz und ich klinke mich aus, verabschiede mich von meinen Bekannten.

Ich erinnere mich daran, wie einer meiner Schüler mit dem Verb „möchten“ einen Satz bildete: „Wir möchten Demokratie“. Ich wünsche mir, dass einer meiner Schüler diesen Satz bald mit dem Verb „haben“ bilden kann.


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